Gustav Mahler
»Liebste Justi!«

Briefe an die Familie
Redaktion der deutschen Ausgabe: Helmut Brenner
Leseprobe
592 Seiten, Abbildungen
Fadenheftung, fester Einband
€ 48
ISBN: 978-3-931135-91-1
Erschienen: 2006
Herausgeber: Stephen McClatchie

Stiftung Buchkunst prämiert: »eines der schönsten Bücher«

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»Übrigens melde ich, daß ich hier beim Orchester sehr beliebt bin das ist mir noch nie passiert. Es ist aber so doch angenehmer als in Pest, dto beim Chor! Die Soloisten sind sehr geteilt. Die Majorität haßt mich die Minorität, zu denen übrigens gerade die hervorragenden gehören, ist auf meiner Seite«, schreibt Gustav Mahler (1860 – 1911) am 22. November 1891 aus Hamburg an seine Schwester Justi. Nach dem frühen Tod der Eltern war der aufstrebende Dirigent mit Anfang Dreißig das Oberhaupt einer fünfköpfigen Familie. Nicht nur materiell sorgte er für die Geschwister Alois, Otto, Emma und Justine. Justine, die Mahler am nächsten stand und mit ihm die Verantwortung für die Geschwister teilte, ist die Empfängerin der meisten der 500 bisher unveröffentlichten Familienbriefe aus der Zeit zwischen 1876 und 1910. Sie stammen aus dem Nachlaß ihres Sohnes Alfred Rosé und bilden das Herzstück der Mahler-Rosé Collection der University of Western Ontario.

Der Leser begegnet Gustav Mahler, von dem es keine autobiographischen Schriften gibt, privat. Er kann den genialen Musiker im Alltag beobachten, seine frühen beruflichen Probleme und Erfolge teilen, seine Rastlosigkeit und seine künstlerische Ungeduld spüren. Gustav Mahler erweist sich in diesen manchmal recht knappen Mitteilungen als pragmatisch und zugleich höchst sensibel. Großes Einfühlungsvermögen, kluge Beobachtung seiner Mitmenschen und kreative Unruhe teilen sich in diesen Briefen an Justi mit, die ein ganz eigenes Licht auf den Charakter dieser Ausnahmepersönlichkeit werfen. Der Autor schildert seine Begegnungen mit Johannes Brahms, Richard Strauss und Hans von Bülow. Mahler vermittelt dabei die absolute Sicherheit seiner musikalischen Begabung und das Wissen um seine Bedeutung als Künstler in aller Deutlichkeit.
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Leseprobe

[Hamburg, zweite Hälfte September 1891]

Liebste Justi!

Dein Plan mit den Hemden ist mir ganz recht. – Mache mir also 6 Stück – (Halsweite Nr. 40[)] – und 1 Dutzend Sacktücher. Fußsocken habe ich gar keine – weiß der Kukuk, wo mir die alle hingekommen sind. – Ich bitte Dich also, mir auch 6 Paar gute Wintersocken zu machen. Dieß Alles aber so bald als möglich und send mir es zusammen mit meinen Schreibtischsachen und der kleinen Kafféemaschine – gut verpackt, damit nichts zu Grunde geht. – Deinen letzten Briefen habe ich vieles für mich Erfreuliche entnommen – ich sehe es wie [Du] Dich zusehends zu einem wachen Menschen entwickelst – Aber [habe] auch einen Einblick dadurch in Euer Leben gethan, der weniger beruhigend ist. – Darüber sei nächstens ein wenig deutlicher, es scheinen ja Euere gegenseitigen Beziehungen sehr verwirrt zu sein. Auch wenn Dir etwas nicht recht ist, vertraue es mir offen an.

Eines aber bildet Euch ja nur Alle nicht ein. – daß auch nur Einer von Euch Menschenkenntniß habt [hat]! – Des Pudels Kern ist nämlich das: so lange Einer von dem Andern glaubt, daß er anders sei – mag es ja noch hingehen! – Aber – trotzdem er das glaubt, stellt er doch immer die Forderungen an den Andern, die ja doch nur immer für ihn selbst taugen. – Da liegt der Irrthum. – Denke nur immer daran, daß jeder Mensch eine Welt für sich ist, von der man ein großes Stück kennt – nämlich insoferne es in einem selbst drinsteckt – aber das Übrige bleibt einem ein Geheimniß lebenslang. – Stellt man neue Gesetze auf, so passen sie immer für dieses Stück Welt, das man kennt – (weil es nämlich die eigene ist) – . –

Doch das führt ja zu weit! Streitet Euch nur nicht – mistraut Euch nicht – Seid zufrieden mit dem, was Euch gemeinsam ist, tadelt nicht, was Euch unverständlich ist und – stellt keine Gesetze auf für »die Menschheit«.

– Für den Herrgott seid Ihr freilich Alle gleich! – Aber aus Menschenaugen gesehen ist und bleibt jeder eine unbekannte Welt mit je einem Stück darauf von Gemeinsamkeit und in Folge dessen Verständlichkeit. Durch dieses Stück seid Ihr verbunden. Zerstört das Band nicht leichtsinnig!

– Ich laborire leider seit meiner Rückkehr – eigentlich seit einem kalten Trunk in Marienbad an einem Magencatarrh, den ich jetzt durch rigorose Diät energisch bekämpfe.

Hast Du das Geld bekommen?

Mit herzlichen Grüßen an Euch Alle

Gustav

Nina grüße ich herzlichst – Eine Menschenkennerin ist sie übrigens auch nicht.

[auf einem beiliegenden Stück Papier]:

Richtig – das Wichtigste in meiner Predigt habe ich vergessen: Nämlich! was Einen am Andern ganz besonders empört, ist unter 100 Fällen 99 mal eben das, wessen man selbst fähig ist. – Auch mit den Fehlern ist es so, wie mit dem ganzen Menschen: daß man nämlich seine eigene Welt im Anderen erkennt, und über sein eigenes Spiegelbild in Wuth geräth – den Spiegel womöglich gleich zerschlagen möchte.

Gustav Mahler in Hamburg, 1892

Justine Mahler, um 1890

Alma Mahler in Maiernigg, um 1902

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