Max Mohr
Das Einhorn
Romanfragment
Mit Briefen Max Mohrs aus Shanghai, 1934-1937.
Mit einem Nachwort von Nicolas Humbert
188 Seiten
fadengeheftete Broschur
€ 19
ISBN: 978-3-931135-22-5
Erschienen: 1997
Herausgeber: Nicolas Humbert
Umschlag: Martin Noel
Max Mohrs letzter Roman beginnt als Tagebuch einer alten Frau, die ihren Sohn sucht. Sie lebt in einer Zeit, die von Gleichschaltung und dem »Boden der Tatsachen« bestimmt ist – unschwer ist darin der Nazi-Staat zu erkennen.
Der Sohn ist untergetaucht und arbeitet gegen dieses System. Um ihm Kraft zu geben, schildert sie ihre Kindheit Ihr Vater war Bildhauer, der einen Ort für sein Werk suchte und ihn schließlich in der weglosen Abgeschiedenheit einer Hochgebirgsschlucht fand dort entstand das Fragment eines Werks, das niemand je sehen wird. Die Frau, in Amerika aufgewachsen, läßt sich in der Nähe dieses Ortes nieder, heiratet einen Arzt, zieht Kinder groß.
Der zweite Teil enthält die Antwort des Sohnes an die tote Mutter.
Max Mohr (1891-1937) stellt in diesem Roman die Frage nach der Möglichkeit künstlerischen Schaffens in einer Welt, die ihre Wurzeln verloren hat. Er durchwebt die Erzählung mit Zitaten aus dem Alten Testament, das als Bezugspunkt jedoch ebenso verloren ist wie die Natur. Der Roman ist noch vor Mohrs Emigration nach Shanghai 1934 begonnen worden, den ersten Teil schrieb er im Exil neu, 1937 jedoch starb er, ohne den zweiten Teil umgearbeitet zu haben.
Max Mohrs Enkel, der Filmregisseur Nicolas Humbert (Step Across the Border, Middle Of the Moment), hat das Werk aus den nachgelassenen Manuskripten rekonstruiert und mit einer Auswahl von Briefen ergänzt, die Mohr aus Shanghai an seine Frau schrieb.
»Das Einhorn jagt und wird gejagt. Es jagt der Schöpfung immer wieder sein eigenes Leben ab, immer wieder, nach jeder Vermischung. Und wird gejagt von aller Kreatur, der nicht dasselbe glückt.«
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Leseprobe
27. März
Gestern und vorgestern kam ich keine Zeile weiter.
Vorgestern war der Glonner Muttertag, und mein Mann wurde ganz wild, als ich zu Hause bleiben wollte, um in meinem Tagebuch weiterzuschreiben. Er sagte, ich hätte ihm schon genug geschadet, weil ich die letzte Versammlung der Hausfrauen geschwänzt hätte, und zu der Versammlung der Mütter müßte ich unbedingt gehn, denn ich stünde wegen meines Sohnes Thomas sowieso im Verdacht, keine gute Mutter zu sein. Also ging ich in Gottes Namen hin. Es war gut besucht, aber es herrschte schlechte Stimmung. Es gab ein großes Hin und Her über die Länge der Redezeit. Allmählich bekamen sie eine riesige Wut aufeinander, weil eine kleine Gruppe immer wieder behauptete, fünfzehn Minuten würden genügen. Doch zum Schluß einigte man sich doch auf zwanzig Minuten, Gott sei Dank.
Ich habe mich nicht beteiligt. Ich saß ganz still in meiner Ecke und dachte an dich, Thomas. Einmal, als du noch ganz klein warst, hast du dich ins Badezimmer eingeriegelt und die Tür nicht wieder aufgebracht. Wie jämmerlich hast du damals nach mir gerufen, bis ich endlich kam und dich herausließ! Und ich mußte ein bißchen heulen bei dieser Erinnerung. Doch das war sehr dumm von mir. Ich versetzte mich ganz und gar in die schreckliche Verlassenheit meines kleinen eingeriegelten Jungen zurück und schnitt dabei wohl selber ein Gesicht wie du, Thomas, als du seinerzeit an die grausame Tür gepocht hast. Und da kam gerade die Kontrolle vorbei, und eine von den Damen zischte mir ganz giftig zu: »Sie machen aber heute wirklich keinen sehr mütterlichen Eindruck!« Diese Schneegans.
Und gestern schrieb ich nichts wegen des Krachs mit meinem Mann. Er war böse, weil ich mich falsch benommen hätte. Man hätte bereits im ganzen Tal davon gesprochen, sagte er, welch unglücklichen Eindruck ich gemacht hätte, und das würde seine Stellung schädigen. Denn als die Mutter eines Verbrechers hätte ich erst recht meinen guten Willen zeigen müssen. »Wenn du noch einmal Verbrecher sagst«, rief ich »verlasse ich dieses Haus.« »Wohin willst du denn gehn«, fragte er »ohne Geld und ohne Paß?« Und ich wäre selber eine Verbrecherin, sagte er, wenn ich ihn öffentlich schädigte mit meinem unglücklichen Gesicht, und ich wäre überhaupt nicht glücklich genug, auch zu Hause nicht, und das wäre ein Verbrechen von einer Frau, deren Mann sie auf Händen trüge. »Ich bin ja glücklich«, schrie ich immer wieder, aber er glaubte es nicht und wurde immer zorniger. Zum Schluß riß er sich seine Orden und Abzeichen herunter und warf sie mir hin und sagte, er pfiffe auf seine männliche Ehre, wenn sein Weib nicht glücklich wäre. Ich hob seine männliche Ehre Stück für Stück wieder auf und heftete sie ihm wieder an, ohne ein Wort zu sagen, aber anstatt sich zu bedanken, brummte er noch einmal, ich wäre nicht glücklich. Da sagte ich: »Mein lieber Mann, ich bin wirklich glücklich, glaub es mir nur, wenn es auch kaum zu glauben ist, nachdem ich mit einem solchen Hammel verheiratet bin.« Und da ging der Krach von vorne los.
Aber heute ist Ruhe. Heute kann ich mein Buch beginnen.