Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème

Roman
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Monika Dimpfl und Carl-Ludwig Reichert
448 Seiten
fadengeheftete Broschur
€ 21
ISBN: 978-3-391135-33-1
Erschienen: 1998
Umschlag: Rainer Gross

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Mely, Amélie oder Amalie Sanders – je nach Stimmungslage und Alter – heißt eine junge Dame aus dem Norden Deutschlands, die im München der Jahrhundertwende eine Karriere sowohl als Künstlerin wie als Dame der Gesellschaft sucht. Als konsequente Halbjungfrau wirft sie sich ins bunte Faschingstreiben, heiratet zwischendurch einmal, bleibt aber stets unzufrieden mit ihrer Stellung und der Welt. Sie läßt sich scheiden und taumelt wie ihr Bruder Hermann weiter ziellos durch die Bohème. Schließlich reüssiert sie, als sie unter dem Pseudonym Amalasunta einen Schlüsselroman mit dem Titel Wenn wir Frauen erwachen .. veröffentlicht.

Oscar A. H. Schmitz (l873 -1931) wußte, was er da schrieb. Er war selbst ein fester Bestandteil der Münchner Bohème der Jahrhundertwende. Heute ist er freilich völlig vergessen, obwohl sein Werk sehr umfangreich ist und zahlreiche Auflagen erlebte. Bürgerliche Bohème hieß beim ersten Erscheinen im Jahr 1912 noch Wenn wir Frauen Erwachen … Ein Sittenroman aus dem neuen Deutschland und rief einigen Widerspruch unter gekränkten Personen hervor, die sich darin zu erkennen meinten: Franziska Gräfin zu Reventlow, Karl Wolfskehl, Stefan George, Franz Hessel etwa.

Die Herausgeber, Monika Dimpfl und Carl-Ludwig Reichert, leben, forschen, publizieren und arbeiten seit langem und immer ein bißchen bohèmisch in München.
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»Oft zitierte Franz Hessel eine Strophe, die er einst auf mich für den weiland 'Schwabinger Beobachter' gedichtet hatte:

Der ist aus zähem Fleisch und überlebt euch alle,
Kriecht aus dem Labyrinth, wie aus der Mausefalle,
Er wandelt sich in Wesen wie Geschlecht,
Und paßt nur auf, am Schluß behält er recht.«

»Mein späterer Roman Bürgerliche Bohème und Franziska v. Reventlows Aufzeichnungen des Herrn Dame […] sind die einzigen Darstellungen jener Bewegung aus der Feder Zugehöriger.«

»Ich möchte Ihnen doch gar zu gern etwas von dem Schmitzbuch erzählen, aber Sie dürfen es ja niemand sagen, daß ich davon erzähle, ich habe natürlich tiefe Diskretion gelobt. Vor allem habe ich daran gesehen, wie ungemein taktvoll unser Buch dagegen ist. Schmitz verwahrt sich in einem Vorwort dagegen, daß er lebende Vorbilder kopiert hätte, feiert dafür aber Orgien von Taktlosigkeit in Bezug auf Wolfskehls und Fuchsens und die einzige Frau, die er anerkennt, ist sichtlich Käthchen Brauer. Das Treiben bei Künstlerfesten wird sehr hübsch als 'Schwabinger Ferkelei' bezeichnet. Kurz, die ganze Sache ist sehr übel, wird aber gewiß gelesen werden.«
Franziska v. Reventlow, November 1912
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Leseprobe

Cornelius kam mit rückwärtsgekämmtem, dunklem Haar, Amélie am Arm, vom Tanz an die Tafel zurück, der Österot vorsaß. Ein bekränzter Stuhl war für Friedrich Wartegg frei gelassen worden, der erst mit dem zweiten Zug erwartet wurde.
»Wenn man sich jetzt ins Wasser stürzen und schwimmen dürfte!« rief Cornelius, erhitzt sein Gewand hin- und herziehend.
»Warum darf man denn nicht?« fragte Österot,»wenn wir es nicht dürfen, wer darfs denn dann?«
»Hier wirds ja koane Schwimmanzieg gebn«, rief Bettina.
Schon war Cornelius auf einen in den See ragenden Vorsprung geeilt und warf seine Kleider ab. Einen Augenblick Stand die schlanke, gebräunte Jünglingsgestalt in der Sonne und sprang in die Flut. Bettina lachte sich halbtot.
»Naa, so was, naa, so was!« krähte sie.
Österot folgte Cornelius und überredete Thea, ein Gleiches zu tun.
»Kommen Sie mit, Amélie!« rief diese, und so ermutigte eines das andere. Frau Theas erblühte, weiße Glieder verschwanden in den sonnigen Wellen.

Während die Badenden sich auf der Landzunge wieder ankleideten, kamen auf mehreren Kähnen die Gäste an, die erst mit dem zweiten Zug gefahren waren. Unter ihnen befanden sich Friedrich Wartegg und Lina Schüler. Sie gingen in die Garderobe, um sich zu kostümieren.

Amélie atmete tief den Tannenduft ein. Sie blickte Cornelius etwas überrascht an, weil er so sprach. Bisher hatte sie ihn immer nur in überlegener, oft in spottender Weise reden hören. Das antike Gewand und der von der Nachmittagssonne rötlich durchleuchtete Wald schienen ihn umgewandelt zu haben.
»Wissen Sie«, sagte er weitergehend, »dieses Leben, diese Schönheit hat etwas Unheimliches. Ich habe das Gefühl, daß das nicht lange so weitergehen kann.«
»Wie schade wäre das!« klagte Amélie. »Glauben Sie wirklich? Es ist das Schönste, was ich je erlebt habe.«
»Ich fühle, wir wandeln im Augenblick eine verbotene Straße. Diese Menschen wollen keine Männer und Frauen sein. Sie wollen Mädchen und Epheben bleiben und den unentschiedenen, berauschenden Spannungszustand der Jugend bis über die Lebensreife hinaus verlängern. So etwas wie dieses gemeinsame Bad – es war ein glühender Augenblick – aber fühlen Sie nicht, so etwas darf man nie wiederholen, dann würde es häßlich und gemein oder zum mindesten gewollt und gesucht werden, wie das, was diese Apostel tun, die heute Nacktkultur predigen. Wir sind an die Grenze solchen heute möglichen heidnischen Daseins gelangt, wie es Österot nennt, und dies Fest ist die letzte Ausschöpfung. Oh, wenn wir nur stark genug sind, aufzuhören, ehe der Rest schal wird!«

Amélie fühlte sich still und froh und jubelte innerlich, daß es dieser war, der sie nun zu Österot führte. Sie kamen bei beginnender Dunkelheit zu den übrigen zurück. In einem weiten Zelt waren einige farbige Papierlampen angezündet über Tafeln, an denen das Nachtmahl genommen werden sollte. Das Festspiel ergab sich wie von selbst aus der Lage. Wartegg saß in purpurnem Cäsarengewand, einen Kranz über seinem Imperatorengesicht, ernst, fast finster in einer Ecke. Seine Hand spielte in den Locken eines Jünglings. Um ihn sammelten sich die, welche in dem Spiel die streitenden Philosophen darstellten. Sie begannen ihre Verse zu sprechen. Cornelius trat mit den beiden Geschwistern zu ihnen und sprach seine Rolle mit leise bebender Stimme.

»Jessas, is des a Stümmung! Das is wirklich unverfälschtes Kinstlerleben«, rief plötzlich Bettina Selch.