Albrecht Schaeffer
Helianth

3 Bände
Albrecht Albrecht Schaeffer hat den Helianth im New Yorker Exil 1948 noch einmal neu geschrieben. Diese Fassung, die sich im Nachlaß Schaeffers im Deutschen Literaturarchiv in Marbach befindet, erscheint nun zum erstenmal im Druck.
1896 Seiten
Halbleinen
€ 84
ISBN: 3-931135-14-0
Erschienen: 1995
Herausgeber: Rolf Bulang
Umschlag: Michael Biberstein
Gefördert durch die Arno-Schmidt-Stiftung und das Land Niedersachsen

bestellen bei Kohlibri


Albrecht Schaeffers Roman Helianth. Bilder aus dem Leben zweier Menschen von heute und aus der norddeutschen Tiefebene, in neun Büchern dargestellt, erschien zuerst 1920 im Insel-Verlag in drei Bänden mit einem Umfang von zusammen etwa 2500 Seiten. Das Werk markiert einen End- und Wendepunkt der deutschen Literatur: Der letzte groß angelegte Entwicklungsroman, der, von der Form her ins 19. Jahrhundert verweisend, die literarischen Mittel des 20. benutzt – zum Teil vorwegnimmt. Nicht zuletzt wegen der wegweisenden psychologischen Zeichnung der Charaktere und des expliziten Eingehens auf Probleme der Psychoanalyse nannte Sigmund Freud den Autor einmal in einem Brief »meinen Dichter«.
Im Mittelpunkt der Handlung steht der Prinz Georg Trassenberg, dessen Entwicklung durch alle Selbstzweifel hindurch bis zum Erreichen von Eigenständigkeit und zur Übernahme der Regierungsverantwortung den Roman bestimmt.
Daneben ist der Helianth jedoch auch ein Zeitroman, der tatsächlich das »Leben zweier Menschen von heute« umfassend darstellt. Er war damit der Roman einer Generation, der um 1900 Geborenen. Ernst Kreuder bemerkt, »daß die Generation, die vor dem ersten Weltkrieg heranwuchs, im Helianth sich selbst wiederfand.« Und der Romanist Leo Spitzer wies bereits 1928 auf die Modernität der Schaefferschen Prosa und auf die stilistischen Ähnlichkeiten zum Werk Marcel Prousts hin.
____________________
Albrecht Schaeffer hat den Helianth im New Yorker Exil 1948 noch einmal neu geschrieben. Diese Fassung, die sich im Nachlaß Schaeffers im Deutschen Literaturarchiv in Marbach befindet, erscheint nun zum erstenmal im Druck (einen Auszug veröffentlichte 1950 Alfred Döblin in der Zeitschrift Das goldene Tor). Die Neubearbeitung strafft die Handlung, ohne ihr etwas von der ursprünglichen Bildungs- und Entwicklungsthematik zu nehmen. Getreu seinem versachlichten Spätstil präzisiert Schaeffer jedoch die mitunter überladene und preziöse Sprache und betont zunehmend die historische Dimension der Handlung.

Durch die Edition des Helianth soll nicht allein immer wieder formulierten Anregungen, Schaeffers Bücher nachzudrucken, und den zahlreichen Hinweisen auf die Bedeutung des Autors – von Hans Hennecke und Peter Härtling bis zu Sven Hanuschek, Adolf Muschg, Henning Rischbieter und Bernd Rauschenbach – Genüge getan werden. Es geht um mehr. Ein Autor, der einmal sehr erfolgreich war und der die deutschsprachige Literatur dieses Jahrhunderts zum Teil geprägt hat, soll durch sein bestes Werk aus dem Strom des Vergessens geborgen werden. Nicht als eine Verbeugung vor der Vergangenheit, sondern zur Bereicherung der Gegenwart.

»Schaeffer war ein Kamerad auf dem steinigen Weg der Literatur.«
Hans Henny Jahnn, Grabrede für Albrecht Schaeffer, 1950

Albrecht Schaeffer, 1885 im westpreußischen Elbing geboren, wuchs in Hannover auf und wurde nach dem abgebrochenen Studium zu einem produktiven Schriftsteller, dessen umfangreiches Werk Romane und Erzählungen ebenso umfaßt wie Übersetzungen, Lyrik, Dramen und Versepen. 1939 er sich zur Auswanderung in die USA, um seinen Kindern »die Vergiftung ihrer Seelen durch die Pestilenz« des Nationalsozialismus zu ersparen. Erst 1950 wird durch die finanzielle Unterstützung einer Freundin die Rückkehr nach Deutschland möglich, und Schaeffer erhält die einzige öffentliche Anerkennung seines Lebens: in Hannover verleiht man ihm den Niedersächsischen Staatspreis für Literatur. Elf Tage später erliegt Schaeffer in München während einer Straßenbahnfahrt einem Herzinfarkt.

»Aber genug ich möchte mich hier nicht wiederholen es steht schließlich Alles in meinen Büchern die praktischen Handübungen, wie die theoretischen Aufsätze, die guten Lehren, und die bösen Beispiele.
Einzig das sei noch einmal betont, wie das Zustandekommen solcher umfangreichen Gebilde nicht wenig erfordert: die Kenntnis der für uns zuständigen, anregenden Vorgänger was in meinem Fall den Zeitraum bedeutet, von LUKIAN und PHILOSTRATOS bis WERFEL und SCHAEFFER.«
Arno Schmidt

Leseprobe

Ununterbrochen feilten die Grillen.

Georg, zum Abgrund des Sommers herabgesunken, lag in der Tiefe des Grillenmeers. Über ihm hoch, in einer schönen Ewigkeit, gab es einen Vormittag, Insel der Sonnenfriedlichkeit, und möglicherweise war es doch dort, wo sein Leichnam angenehm ruhte, in jenen farbigen, brodelnden Wiesen, von dem unzählbaren Zirpen des unsichtbaren Getiers dergestalt überfüllt, daß Alles von ihm zitterte und schwoll wie von einer unsichtbaren, stampfenden Maschine, oder als brächten zehntausend Sonnenstrahlen an den geschliffenen Spitzen der Gräser dies Geräusch hervor, das fortebbte und erstarb und schon wieder von anderswo sich erhob und überschwoll und wieder hinsank und in Ewigkeit nicht verstummte – grün, grün, grün – und die flirrenden Stimmen. Georg bemerkte, den Kopf hebend, daß er allerdings inmitten jener Wieseninsel lag, sanft überflutet von Glut und geblendet von Licht, gewahrte er durch die Spalte der Lider fern seine Beine und Füße in braunen Schnürstiefeln mit Messinghaken und Reitgamaschen, eine Art braunen Gebirges, umringt von bebenden Zitterhalmen und roten Sauerampferstauden wie von Zypressen und Kiefern, zu denen, klein vogelgleich, unablässig die roten Fliegen und Perlmutterfalter phantastisch heranflogen. Hummeln summten mit tiefem Geläut dazwischen. Unermeßlich fern und fein sang eine gedengelte Sense. Kühe, die in der Ewigkeit grasten, brüllten von dort herüber, selten nur und mit Seelenruhe. Die See hinter dem Deich war nicht zu hören.

Er legte sich auf die Seite und war an den Grund eines Urwalds geraten. Alle Halme, die Margeriten, Federnelken und Sauerampfer – Georg dachte: Auersampfe, träumerisch – waren zu einer sonnigen Lichtung geworden, wärmedurchrieselt, bebendes Gold in der Himmelsbläue. Er wälzte sich auf den Bauch herum und betrachtete die Stelle, wo sein Kopf das Gras plattgedrückt hatte. Eine Ameise arbeitete sich schwierig daraus hervor, kletterte, immer wieder einbrechend, aber nicht verzweifelnd, darüber hinweg und verschwand. Hinter dem Gräserwald stand der Himmel wie blaues Glas. Dahinter stiegen Käfer auf, schlugen einen Bogen, fielen, waren fort. Grillen schnellten wie abgebrannte Schwärmer in die Höhe, fielen, waren fort. Schön wärs, jetzt durch die blaue Glasscheibe zu greifen, wie durch lauwarme Luft, und die Hand würde ganz blau sein dahinter. Jetzt wackelte ein Urwaldsbaum aufgeregt mit dem Wipfel an seiner Wurzel arbeiteten mit Stricken und Äxten wild aussehende Kerle, mit Waffen bestarrt von oben bis unten, in befransten Leggins, mit Schlapphüten, unter denen sie Tücher um den Kopf gewickelt hatten ihre Pferde knabberten in der Nähe, legten die Ohren zurück, hatten böse Augen und mißhandelte Mäuler von den pfundschweren Gebissen dies war unbeschreiblich tief im kanadischen Urwald. Oder wars vielleicht der Arkansas, der in der Nähe durch die Schnellen ging? Von Arkansas kam man nach Tennessee und so weiter durch die Staaten, die sich unerhört ausdehnten. Wie das schon klang, wenn man sagte: Staaten! Arkansas war auch ein fabelhaftes Wort, ebenso wie Rio de la Plata – o grenzenlose, stille Wasserflächen! O Papageienschreie! Die Savanne, die Savanne! Welch unsterblich kolumbische Worte, durch Ferne und Abenteuer zu einer strahlenden Glasur gebrannt, Fayencen der Unsterblichkeit! Womöglich bezaubernder, als wenn man Tasso sagte. Du siehst mich lächelnd an, Eleonore. Wenn es gelänge, einen solchen Anfang zu erfinden! Sieh, Ameise, da bist du! Ist es dir gelungen? Warum jetzt diese Sauerampferpappel ersteigen, Ameise? Indiana, das war auch so ein entzückendes Staatenwort. Emma – warum steht jetzt Emma ins Gras geschnitten, so groß, so fett, so ausdrucksvoll? »Die Möwen sehen alle aus, als ob sie Emma hießen« .. bewahre, das ist kein Grasboden, das ist tintig und löcherig, das ist das alte Klassenpult unter dem Bilde von Herkulanum. Ach, das wird nun wohl überhobelt sein, und die schön gemalte Tulpe Pilsener ist verschwunden, ebenfalls der unsterbliche Vers oben links in der Ecke: Wer hier einschläft und nicht erwacht – Den hat der Daniel umgebracht. O Direx, o Daniel, o Gewesenheit! Wie schön sie nun dasteht, aufrecht und echt und dursterregend, die Tulpe Pilsener aus Glas mit breitem Goldrand, zur oberen Hälfte mit Schnee, zur untern mit klarem Honig gefüllt, und darunter, auf dem mit Zigarrenasche bestreuten Tischtuch las Georg die mit Bleistift zierlich geschriebene Strophe Platens – den ersten Vers: »Wer wüßte je das Leben recht zu fassen?«

Albrecht Schaeffer, 1946.

Gesamtverzeichnis
Autoren  |  Künstler