Lindita Arapi
Albanische Schwestern
Roman
aus dem Albanischen von Florian Kienzle
ca. 240 Seiten
fadengeheftete Broschur
€ 25
ISBN: 978-3-949441-07-3
Erschienen: März 2023
Umschlag: Greta von Richthofen
Alba ist eine von Ängsten geplagte Enddreißigerin. Eine Sozialarbeiterin, die mit ihrem Mann, einem Informatiker, in Wien lebt. Zwar ist es ihr gelungen, das bedrückende Albanien ihrer Kindheit und Jugend zu verlassen und sich eine Existenz in Österreich aufzubauen. Doch das Erreichte kann sie nicht genießen. Nirgendwo fühlt sie sich zu Hause, auch in ihrer Ehe nicht. Vielmehr erfährt sie dort erneut Entfremdung und Einsamkeit. Ihr Mann reagiert mit Unverständnis und Rückzug auf ihre Ängste, sie fühlt sich verlassen und verraten, als er eigene Wege geht. Einzig ihre Schwester Pranvera, die Schöne, Kluge, Starke ihrer Jugendjahre, steht ihr in abendlichen Telefonaten aus Albanien zur Seite.
Pranvera ist ihr einziger Halt in einer von der kommunistischen Diktatur bestimmten Jugend gewesen, in einem von patriarchaler Strenge und Gewalt geprägten Elternhaus. Die Schwestern entwickelten trotz unterschiedlicher Lebenswege eine tiefe Verbundenheit.
Albas Lebenskrise wird durch Rückblenden aus der Kindheit und durch die Schilderung von Erfahrungen in einer albanischen Kleinstadt in den 1980er und 1990er Jahren nachvollziehbar. In ihren Erinnerungen und in ihrem aktuellen Leben spiegelt sich die Ambivalenz und innere Gebrochenheit einer Seele, die zwischen Aufbegehren, Emanzipationswillen und dem Wunsch, endlich Ruhe zu finden, immer wieder die Fesseln der Vergangenheit zu spüren bekommt.
Als ihr Vater stirbt, kehrt sie in ihre Heimat zurück. Sie erlebt eine verlassene Stadt im Stillstand, einsame Alte, die den ganzen Tag auf einen Anruf der in den Westen emigrierten Kinder warten. Deren Verwahrlosung löst in Alba den Impuls aus, ihnen zu helfen. Am Ende erscheint Alba stärker, als sie es selbst erwartet hätte, und findet einen Lebensentwurf, der ihr entspricht.
Lindita Arapi, 1972 in Lushnja geboren,
ist eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen Albaniens. Ihre Gedichtsammlung Am Meer, nachts erschien 2007 auf deutsch (Edition Thanhäuser). Ihr Roman Das Schlüsselmädchen kam 2010 auf albanisch heraus, in Deutschland 2012 (Übersetzung: Joachim Röhm / Dittrich Verlag). Arapis Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Lindita Arapi ist darüber hinaus als Hörfunkredakteurin der Deutschen Welle und als Übersetzerin tätig. Sie übertrug u. a. Werke von Günter Grass, Joseph Roth, Elias Canetti, Marion Poschmann, Ron Winkler und Felicitas Hoppe ins Albanische.
Florian Kienzle, geboren 1982, lebt und arbeitet als Übersetzer und Albanologe in München. Er ist Autor des Buches Ein Nehmen und Geben. Die Geschlechter in der albanischen Literatur. 2021 erschien seine Übersetzung von Elvira Dones, Verbrannte Sonne (ink press).
»Alba beschloß rauszugehen. Schließlich ging es nur darum, etwas im Supermarkt zu kaufen, machte sie sich Mut. Du mußt ja mit niemandem ein Wort wechseln, erledige rasch deine Sachen und komm zurück. Zweifelnd zog sie die Tür auf.
Draußen wehte eine leichte Frühlingsbrise.
»Schiff mit 250 Flüchtlingen sinkt vor Lampedusa«, las sie auf der Zeitung in einer Plastiktüte, die an einem Pfosten in ihrem Sträßchen hing. Für ein paar Cent konnte man die Zeitung kaufen, auch wenn viele hineingriffen und sie ohne zu bezahlen mitnahmen. In keiner anderen Stadt hatte sie gesehen, daß man Zeitungen auf diese Weise verkaufte. Überall hingen am Wochenende diese mit Zeitungen gefüllten Tüten, mancherorts überlebten einige bis Montag oder Dienstagmorgen.
250 leblose Körper, irgendwo tief im Mittelmeer. Sie würden nicht bei der Ausländerbehörde anklopfen, in der sie als Sozialarbeiterin angestellt war. Wenn man in der Kantine über das Ereignis sprach, würde irgendein Kollege sagen, daß sie selbst schuld waren, warum hatten sie auch diesen Seeweg genommen. Die wartenden Mütter in Afrika oder anderswo würden nie von ihren Kindern die Nachricht erhalten, daß sie es nach Europa geschafft hatten.
Einige Gärtner gruben die Erde um, ohne die Schlagzeile an dem Pfosten eines Blickes zu würdigen. Wie jeden Frühling pflanzten und pflegten sie Blumen und Büsche auf den dreieckigen Flächen vor den Wohnhäusern.
Auf dem Platz vor dem Supermarkteingang spielte ein kleines Mädchen auf den Knien mit einem Kreisel und stieß jedes Mal Freudenschreie aus, wenn sich die metallische Spitze einige Sekunden lang um sich selbst drehte. Doch zum Schluß fiel der Kreisel immer um.
Alba ging abseits mit gesenktem Kopf, damit ihre Blicke niemanden trafen, und trat in den Laden, in Gedanken bei dem nimmermüden Mädchen, wie es immer wieder das Spielzeug aufhob und erneut drehte, ohne sich den Kopf darüber zu zerbrechen, daß der Kreisel umfallen würde. Sie hätte sich gerne dort zu dem sorglosen Mädchen gesetzt, um noch einmal das Kind zu sein, das sie nicht war, aber der Kreisel des Schicksals läßt sich nicht zurückdrehen, dachte sie, während sie eilig den Einkaufswagen vor sich herschob.
Es dauerte nur zwei oder drei Minuten, die Lebensmittel in den Wagen zu packen. Sie hoffte, daß sie schnell wieder draußen sein würde, mußte aber warten. Um sich die Minuten zu vertreiben, bis sie an der Reihe war – die Schlange wollte an diesem Tag einfach nicht kürzer werden -, betrachtete sie die Profile der umstehenden Menschen, auch wenn sie alle vergessen würde, sobald sie aus der Tür war. Alle gleich, vorübergehende Gesichter, die geduldig warteten, ordentliche Steuerzahler. Sie paßte auf, daß der Einkaufswagen nicht die Beine der vor ihr Stehenden berührte. In dieser Stadt waren viele Menschen immer dazu bereit, den Zeigefinger zu erheben, um die anderen an die Einhaltung der Regeln zu erinnern.«