Jannie Regnerus
Das Lamm
Roman
aus dem Niederländischen von Ulrich Faure
108 Seiten
Fadenheftung, Broschur
€ 20
ISBN: 978-3-949441-06-6
Erschienen: Februar 2023
Gestern noch spielte Joris einen Ritter, der gegen Drachen kämpft. Er sammelte Kaulquappen in Einmachgläsern und malte lustige Bilder. Heute sitzt der Fünfjährige vor der Kinderonkologin auf einem Krankenhausbett. Diagnose: Nierentumor. Das Leben von Joris und seiner Mutter Clarissa wird von einem Tag auf den anderen komplett umgekrempelt.
Äußerst detailliert und plastisch wird die Verbundenheit einer Mutter mit ihrem Kind unter lebensbedrohenden Umständen beschrieben. Beide teilen die Fähigkeit, sich zu begeistern; mit kindlicher Faszination bewundern sie durch ihr Teleskop nicht nur den Mond, sondern auch den goldenen Wetterhahn auf dem Kirchturm. Joris stellt sich tapfer den zermürbenden Behandlungen und verliert nie seine Lebenslust. Clarissa versucht mit aller Macht, ihn vor der Realität zu beschützen – so benennt sie das Krankenhaus kurzerhand in »Bessermachhaus« um -, aber der Krebs verändert mit der Zeit auch ihre Wahrnehmung: Sie verliert den Blick für die Schönheit, die sie umgibt. Einen Ausweg bietet ihr die Kunst, am Ende des Buches steht sie mit Joris vor dem Genter Altar.
Jannie Regnerus beschreibt den Alltag der erschütterten Familie in kurzen, präzisen Bildern und Szenen. So wirkt der Roman wie ein Film, der aus eingefrorenen Standbildern komponiert ist.
»Der Titel des Buches bezieht sich auf den berühmten Genter Altar von Jan van Eyck. Ich werde dieses Werk nie mehr sehen können, ohne an Jannie Regnerus' Roman zu denken.« (Cees Nooteboom)
Jannie Regnerus, geb. 1971 in Oudebildtzijl, ist seit den 1990er Jahren als Künstlerin und Fotografin aktiv und erhielt für ihr Werk zahlreiche Preise, so 2007 den VPRO Bob-den-Uyl-prijs für das beste Reisebuch des Jahres. Seit 2005 veröffentlicht sie zudem Romane, darunter Het geluid van valende sneeuw (2006), Nachtschrijver (2017) und Het Wolkenpaviljoen (2020). Das Lamm erschien 2018 auf niederländisch unter dem Titel Het Lam und wurde dort mehrfach aufgelegt.
Ulrich Faure, geb. 1954 in Halle/Saale, lebt in Düsseldorf. Langjähriger OnlineChefredakteur beim Branchenmagazin BuchMarkt, Publizist, Lektor, Herausgeber und Übersetzer aus dem Niederländischen, u. a. von Simon Carmiggelt, Maarten Biesheuvel, Thomas Heerma van Voss, Rob van Essen, Paul Binnerts und Pieter Waterdrinker.
»Die, die nicht gesehen werden wollen, tauchen abends in der Dämmerung im Wald auf: ein paar Rehe, ein Fuchs und Clarissa mit Joris, den sie in seinem alten Kinderwagen durch den Wald fährt, weil er zu schwach ist, selbst zu laufen. Eines der drei Räder schleift ziemlich, wodurch sich der Wagen wie ein Rasenmäher anfühlt, den sie durch nasses hohes Gras schiebt. Wenn sie anhält, verstummt das schmirgelnde Rad, und der Wald meldet sich wieder zu Wort. Ein paar ächzende Äste und trockene Blätter, die vom Wind raschelnd über den Weg gejagt werden. Das letzte Sonnenlicht fällt ein und bricht sich zwischen den Stämmen, liegt in gelben Scherben auf dem Moos. Vor ihnen schwebt auf rätselhafte Art und Weise ein Blatt über dem Weg, es ist im Fallen von einer Spinnwebe aufgehalten worden und dreht sich im Nichts um seine eigene Achse, manchmal rasendschnell und dann wieder ganz langsam nach links und nach rechts. Je nachdem, ob Clarissa und Joris länger stehen bleiben, glauben die Vögel, daß die Gefahr vorüber ist, und nehmen ihren Gesang zögerlich wieder auf. Es ist verlockend, für immer zwischen den Stämmen auf dem Weg stehen zu bleiben, an nichts zu rühren und, genau wie die Bäume, sich höchstens ein bißchen im Wind zu wiegen und zu ächzen. Würden sie hier lange genug warten, würde das Moos irgendwann die Räder des Wagens und ihre Füße und Waden überwachsen, wie es auch die Baumwurzeln bedeckt hat.
Die Waldluft, der Eukalyptus, das alles muß tief in Joris eindringen, vor allem jetzt, da sie wissen, daß er nicht mit einer kleinen Schramme davonkommen wird. Der Pathologe hat das erkrankte Organ untersucht und in den Grafiken Anmerkungen hinterlassen. Es kann nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, daß böse Zellen sich auf den Weg gemacht haben, sie scheinen wahre Meister darin zu sein, sich zeitweilig zu verstecken. Präventiv muß sich Joris noch ein halbes Jahr einer wöchentlichen Behandlung unterziehen. Sein Körper ist ein Acker, auf dem vom Monat der Aussaat an bis zur Ernte Pestizide abgekippt werden, auf daß weder Getreidehalm noch Distel ihr Haupt erheben.«