Zurab Karumidze
Dagny oder Ein Fest der Liebe
Roman
Aus dem Englischen von Stefan Weidle
Gefördert vom Georgian National Book Center
288 Seiten
fadengeheftete Broschur
€ 23,00
ISBN: 978-3-938803-85-1
Erschienen: September 2017
Umschlag: Levke Leiss
Fast wäre es leichter aufzuzählen, was in diesem Roman nicht vorkommt, denn Zurab Karumidze hat alles in sein großes postmodernes Spiel gepackt, dessen er nur irgend habhaft werden konnte. Immerhin aber hat er uns eine zentrale Figur geschenkt, Dagny Juel. Die gab es wirklich, sie wurde am 4. Juni 1901 in Tiflis von einem nicht erhörten Liebhaber erschossen. Sich selbst erschoß er dann auch. Am 8. Juni 1901, ihrem 34. Geburtstag, wurde Dagny in Tiflis beerdigt.
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Dagny Juel war Norwegerin, sie lernte Edvard Munch kennen und wurde sein Modell (etwa für die berühmte »Madonna«). Später traf sie auf August Strindberg, der sie erst liebte und dann in einem Drama vernichtete. Schließlich aber heiratete sie den Bohemiensatanisten Stanisław Przybyszewski, mit dem sie in dem Berliner Künstlerkreis um die Kneipe »Das Schwarze Ferkel« unterwegs war. Przybyszewski überließ sie dann seinem Jünger Władysław Emeryk, der sie nach Tiflis mitnahm.
Wer tritt sonst noch auf in diesem Roman? Zunächst der georgische Mystiker Georges Gurdjieff und der Volksdichter Wascha-Pschawela. Weiter ein sprechender Rabe vom Saturn, der Maler Niko Pirosmani, ein tibetanischer Schamane, August Strindberg, Albert Schweitzer und viele andere. Sie alle sind beteiligt an einem »Fest der Liebe«, das dann gründlich schiefgeht, weil sich der junge Revolutionär Koba einmischt, der ein Auge auf Dagny geworfen hat. Er wird später als Josef Stalin in die Geschichte eingehen.
Und natürlich spielt das georgische Nationalepos, Der Recke im Tigerfell von Schota Rustaweli, eine wichtige Rolle.
Zurab Karumidze (geb. 1957) ist einer der bekanntesten Autoren Georgiens. Sein Werk umfaßt Romane, Kurzgeschichtensammlungen, Novellen sowie ein Buch über Jazz, das den wichtigen georgischen Literaturpreis SABA gewann. Darüber hinaus ist er Herausgeber und Mitherausgeber einiger Essaybände über die georgische Politik und Kultur.
Sein Roman Dagny or A Love Feast wurde 2012 auf die Longlist des »Dublin International Literary Award« gewählt.
Zurab Karumidze lebt in Tiflis und ist als außenpolitischer Berater der georgischen Regierung tätig. Er wird voraussichtlich zur Buchmesse nach Frankfurt kommen.
Der Roman erschien zuerst 2011 in Tiflis. Er wurde in englischer Sprache geschrieben, eine Übertragung ins Georgische gibt es (noch) nicht. Bislang wurde er lediglich ins Türkische übersetzt.
Ein turbulenter Roman über das Ende der Belle Époque und den Beginn des Terrors.
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Leseprobe
Langsam wie ein Lavastrom fuhr der Zug in den Bahnhof von Tiflis ein, seine keuchende Lokomotive hielt an. Emeryk betrat als erster den Bahnsteig. Er winkte mit dem Hut Anton Keller zu, der sich raschen Schrittes ihrem Waggon näherte, begleitet von einem Gepäckträger, einem lokalen Kurden mit mächtigem Schnauzbart. Zenon hüpfte die Trittstufen hinab, gefolgt von Dagny, die ihn am Kragen festzuhalten versuchte. »Vorsichtig, mein Schatz!« mahnte sie.
»Ducha, darf ich dir meinen Partner und Freund vorstellen, meinen Petrus, den Felsen, auf den ich meine Kirche bauen kann?« Emeryk half der stolpernden Dagny die Stufen vom Waggon hinunter, ihr Kleid hatte sich verhakt.
»Willkommen in Tiflis, Madame Przybyszewska!« Keller wurde vor Aufregung rot, als er versuchte, Dagny die Hand zu küssen.
»Wie schön, Sie kennenzulernen, Monsieur Keller!« erwiderte Dagny, vermied den Handkuß und umarmte ihn statt dessen schwesterlich. »Wład hat so nett von Ihnen gesprochen.«
Sie bahnten sich einen Weg durch die laute, bunte Menschenmenge ins Bahnhofsgebäude. Einige Leute trugen europäische Anzüge, andere Post-, Polizei- oder Bahnuniformen. Die meisten aber trugen die traditionellen Trachten, die Männer riesige Filzhüte und Lederstiefel, die Frauen gestickte Westen über Satin und Seide. Nonnen in Schwarz kamen vorbei, gefolgt von fliegenden Händlern, die Kekse und Bonbons feilboten.
Im Bahnhofsbüfett war es kühler und ruhiger; das Klimpern eines elektrischen Klaviers mischte sich mit dem Stimmengewirr aus allen Sprachen, die man hier sprach: Russisch, Deutsch, Türkisch, Armenisch. Am lautesten waren die Georgier, vier von ihnen saßen an einem Tisch und tranken Champagner.
»Ist es nicht noch ein bißchen früh für Champagner?« fragte Dagny.
»Wenn es ums Trinken geht, verlieren die Leute hier jegliches Zeitgefühl, meine Liebe«, erklärte Emeryk.
Sie nahmen an einem Tisch nahe der Bar Platz und bestellten Limonade. Als Dagny an dem kühlen, erfrischenden Getränk nippte, fühlte sie plötzlich, wie ein starrer Blick sie förmlich durchdrang. Sie sah zum anderen Ende der Bar; dort stand ein Mann, der sich auf seinen linken Arm stützte und sie unverwandt anstarrte.
»Wieder so ein riesiger Schnauzbart … diese Männer können offenbar nur durch enorme Haarbüschel atmen«, dachte sie und wandte den Blick von ihm.
Der pechschwarze Schnauzbart des Mannes war tatsächlich sehr dick, die Enden nach oben gezwirbelt. Auch seine Augen waren riesig – sie glänzten und schienen aus seiner Stirn herauszutreten; dicke Adern wölbten sich über seinen Schläfen. Auf dem rasierten Kopf trug er eine turkmenische Fellmütze. Sein buntes Hemd war eckig wie seine Weste und Hose. Dennoch sah er nicht wie ein Landstreicher aus – eher wie ein weitgereister Mann. Auch schien er nicht arm zu sein, auf die Frage des Barmanns hin bestellte er französischen Armagnac und armenisches Dörrfleisch. In seiner Jugend kannte man ihn als den »Schwarzen Griechen«, doch nach einem Jahrzehnt in Zentralasien gaben ihm seine Reisegefährten einen neuen Namen: »Tiger von Turkestan«. Weitere zwei Jahrzehnte später sollte er als Georges Gurdjieff berühmt werden, Lehrer heiliger Tänze und Verkünder der harmonischen Entwicklung des Menschen.