Michael Melcer
Milch & Hering. Jewish Foodshops in New York
Photographien und Interviews
Einband: Forssman de Jong, Michael Melcer (Foto)
Michael Melcer: Photographie
Patricia Schon: Interviews
192 Seiten, zahlreiche Abbildungen
fadengeheftete Broschur
€ 19
ISBN: 978-3-931135-67-6
Erschienen: 2002
Nirgendwo auf der Welt leben so viele Juden zusammen wie in New York, und so findet man in dieser Stadt einen ungewöhnlichen Reichtum jüdischen Lebens unterschiedlichster geographischer Herkunft und religiöser Ausprägung. Essen ist Ausdruck von Kultur, Ausdruck der Tradition, insbesondere für den Immigranten: Ein israelisches Delicatessen-Restaurant in der Bronx, ein Sandwichladen mit der »besten Matzo-Ball-Soup der Stadt« in Midtown, eine koschere Bäckerei auf der Upper East Side, ein persischer Grocery-Store in Queens – dieser delikaten Forschung widmet sich Milch & Hering. 1999 und 2000 haben Michael Melcer und Patricia Schon in Photos und Interviews die Welt jüdischen Essens in New York portraitiert. Sie zeigen Geschichten vom Quereinstieg, vom Traditionserhalt, vom Überleben – und immer wieder Geschichten vom Essen.
Michael Melcer, geboren 1961 in Augsburg, ist Architekt und Photograph und lebt in Berlin. Patricia Schon, 1962 in Trier geboren, lebt ebenfalls in Berlin und arbeitet als Theaterregisseurin.
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Leseprobe
Man behauptet immer, Bialys seien polnisch — das sind sie wirklich nicht! Ich denke, sie gehören jetzt zu New York! Ein paar polnische Juden immigrierten, brachten sie her, und das New Yorker Wasser ist zufällig ausgezeichnet für Bialys und Bagels, keine Idee, warum. Das Fluor, der Dreck, keine Ahnung. Es gibt in ganz Amerika drei Bialy-Bäckereien, und zwei davon sind in Brooklyn, eine in Manhattan. Wir fangen mit den Bagels an, und ich vergleiche sie mit Bialys! Also, die fertig geformten Bagels müssen an einen kalten Platz gelegt und dann in einem Kessel gekocht werden. Dann streuen wir Körner drüber, tun sie in den Ofen, wenden sie und holen sie raus. Das ist der Bagel-Prozeß. Bialys dagegen wollen wir warm halten und aufgehen lassen, und dann backen wir sie direkt aus. Kein Umdrehen, kein Abkochen, nichts dergleichen. Ich sag' Ihnen sogar die geheimen Zutaten: Mehl, Wasser, Salz und Hefe. Ich hab' festgestellt, daß Frauen Bialys lieber mögen — oder dünne Männer. Männer, die schweres Essen lieben, bevorzugen Bagel. Eine volle Schicht ergibt 270 Dutzend Bialys. An einem normalen Tag haben wir drei Schichten laufen, sechs Tage die Woche. Wir haben jetzt vier Bäcker, mein jüngster Bäcker ist um die vierzig, und sie arbeiten hier seit langer Zeit. Tatsächlich ist es eine Kunst, einen Bialyteig zu machen. Selbst wenn ich Ihnen erklärte, wie man einen guten Teig macht– im Winter wäre dieser Teig nicht mehr gut. Oder wenn es draußen feucht wird oder es ist windig . Manchmal sieht man die Tür geöffnet, während sie backen. Manchmal halten sie die Kästen fest geschlossen, manchmal öffnen sie die Kästen. Ich finde es so erstaunlich, weil sie gar nicht realisieren, daß sie Chemie betreiben!
Es gibt ein Kaschrut-Ritual für den Teig: Von jedem Teig, der mehr als fünf Pfund wiegt, wird ein Stück abgenommen. Man spricht einen Segen – das mache ich jeden Tag. Wir werfen jedes Stück in einen Eimer, in eine große Papiertüte, und am Ende der Woche, nach Backschluß, bevor wir am Freitagnachmittag schließen, verbrennen wir den Teig. Samstagnacht nehmen wir es dann aus dem Ofen und fangen von vorn an. Wir machen das so für den Fall, daß jemand den Teig im Eimer sehen will. Die Leute sind mißtrauisch. Der ursprüngliche Besitzer hieß Morris Kossar, und der Laden ist ungefähr 65 Jahre alt. Es war immer ein koscherer Laden, aber er war samstags geöffnet. Wir schließen am Samstag, was unseren Stammkunden eine Menge Probleme bereitete. Ich selbst lebe koscher. Am Schabbat will keiner von uns arbeiten, wir wollen Zeit für die Familie haben — ich bin Jüdin. Ich bin religiös, und ich habe meine Traditionen.