Ann-Marie Ljungberg
Dunkelheit, bleib bei mir

Roman
Aus dem Schwedischen von Eva Scharenberg
mit einem Vorwort von Björn Sandmark
208 Seiten
fadengeheftete Broschur
€ 23,00
ISBN: 978-3-938803-79-0
Erschienen: Mai 2016

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Schweden im Frühjahr 1940. Finnland und die Sowjetunion befinden sich in der letzten Phase des Winterkriegs. Während die schwedische Regierung auf Neutralität besteht, wünschen sich große Teile der Bevölkerung ein aktives Eingreifen in den Krieg. Überall in Schweden brodelt der Antikommunismus, bis er sich schließlich (wenige Tage vor dem Sieg der Roten Armee über die Finnen) im größten terroristischen Attentat in Schweden im 20. Jahrhundert entlädt: Am 3. März sprengt eine Gruppe von Männern das Gebäude der sozialistischen Zeitung Norrskensflamman in Luleå (Nordschweden, nahe der finnischen Grenze) in die Luft, mehrere Menschen sterben bei dem Anschlag.
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Ann-Marie Ljungberg zeichnet in ihrem spannenden Roman die Wochen vor und nach dem Attentat aus der Perspektive eines der Attentäter nach, des Journalisten Paul Wilhelmsson; dabei steht die psychische Verfassung im Vordergrund, das allmähliche Abtauchen in den finsteren Tunnel des Terrors. Warum werden Menschen zu Attentätern? Was ist moralisch vertretbar und was nicht? In Ann-Marie Ljungbergs Roman verwischen die Grenzen zwischen Eifer und Obsession, zwischen Engagement und Verbrechen, zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen Realität und Einbildung. Ausgehend vom Gerichtsprozeß gegen die Täter erfährt der Leser in Zeitsprüngen erst nach und nach von den Ereignissen und erlebt mit, wie sich die Dynamik innerhalb der Gruppe der Attentäter verändert. Die Zeitsprünge werden dabei immer kleiner, bis die Woche des Attentats beginnt und die Nacht des Anschlags erzählt wird. Verstörend, spannend, informativ.

Ann-Marie Ljungberg wurde 1964 im schwedischen Haparanda geboren, direkt an der Grenze zu Finnland und unweit von Luleå, dem Ort des Attentats. Für ihren Roman
Simone de Beauvoirs Hjärta (»Simone de Beauvoirs Herz«) wurde sie 2005 für den Augustpriset nominiert, den renommiertesten schwedischen Literaturpreis. Sie lebt in Göteborg.

Leseprobe

Wilhelmsson wird als erster verhört. Er denkt, sie tun das aller Wahrscheinlichkeit nach deshalb, weil sie glauben, er sei derjenige, der am meisten aussagen wird. Und das berührt ihn unangenehm. Der Gerichtssaal schwankt vor ihm; er ist so voll besetzt mit neugierigen Menschen und Journalisten, daß die Luft zum Schneiden ist. Ihm kommt der Gedanke, daß er selbst an deren Stelle hätte sein können, damit beauftragt, genau darüber zu schreiben. Das hätte ihm gefallen: ein derart politisch brisanter Prozeß. Für eine Sekunde gelingt es ihm, sich selbst vorzumachen, er sitze tatsächlich zwischen den anderen Journalisten und berichte über den Prozeß. In den Bänken, die der Presse vorbehalten sind, hält er Ausschau nach sich selbst, und entdeckt wie von einem etwas abgelegenen Platz einige Bekannte. Von seiner eigenen Zeitung sieht er Granberg, der ihn mit seinen leuchtend blauen Augen fixiert. In seinem Blick liegt blankes Entsetzen, aber auch ein Anflug von Neugier. Seine ehemaligen Kollegen vom Norrländska sind auch hier. Dann überwältigt ihn noch tiefere Hoffnungslosigkeit, denn ihm wird wieder bewußt, daß das alles wirklich geschieht.
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Wilhelmsson rennt, bleibt stehen, steht still. Kann sich nicht entscheiden, ob er sich der Straßenecke im Schutz der Dunkelheit der Häuserwände nähern, oder ob er ganz selbstverständlich in aller Ruhe mitten auf der hell erleuchteten Straße gehen soll. Seine Beine zittern, tragen ihn kaum. Sein rechter Knöchel ist verletzt. Er entscheidet sich schließlich für den Schatten an den Häuserwänden. Die Straßenlampen kommen ihm mit ihrem weißen elektrischen Licht so unbarmherzig vor, viel zu grell. Er horcht, versucht, die anderen zu hören, Schritte, Rufe, Stimmen, doch es herrscht absolute Stille. Er war es, der als Letzter das Gebäude des Norrskensflamman verlassen hatte. Und nun? Er hört seine eigenen Atemzüge. Die kalte Luft sticht in der Lunge. Der Knöchel schmerzt und knickt bei jedem zweiten Schritt ein. Er hält inne, öffnet den Mund, will »Verdammt!« rufen, doch so etwas kommt ihm eigentlich niemals über die Lippen. Mit einem Mal ist der Himmel erleuchtet. Der Schein strahlt aus der Richtung, aus der er kommt, und leuchtet bis weit vor ihm. Alles ist hell, die Straße ist in klares Tageslicht getaucht, selbst die dunkelste Ecke. Und dann der Schlag. Er betäubt ihn. Das Geräusch von Glas, das zerbirst. Entfernt und sonderbar. Alle Versuche, sich zu verstecken, wären jetzt vergebens. Er sieht sich um, doch nicht eine Menschenseele ist in Sichtweite. Er geht weiter. Starr vor Schreck. Eine Hand vor dem Gesicht, die andere auf dem Bein, so, als wolle er versuchen, den verletzten Fuß auf Trab zu bringen. Sein Blick ist auf den schneebedeckten Bürgersteig gerichtet, dessen Begrenzung nur ein kleiner Schneewall ist. Der Lichtschein ist jetzt schwächer, und er muß einfach den Kopf drehen und kurz anhalten, um sich zu vergewissern, daß es kein Traum war, Einbildung, ein Hirngespinst seiner Überspanntheit. Er faßt sich an den Kopf, läßt die Hand wieder fallen und dreht sich um. Ja, es brennt, zweifellos. Ein gelber, wabernder Schein spiegelt sich in den Fenstern wider, auf den Mauern, im Himmel. Nun geht hinter einigen Fenstern das Licht an. Er dreht sich wieder um, biegt dann an der Stationsgatan um die Ecke und ist auf der Timmermansgatan angelangt. Nur noch ein paar Meter, die er halb laufend, halb hinkend zurücklegt, das Gesicht schmerzverzerrt. Die Gesichtsmuskeln wollen nicht gehorchen. Genau wie sein rechter Fuß, der die ganze Zeit ein bisschen schlackert. Er hat kein Gefühl mehr darin. Die Luft scheint in der Nase und im Brustkorb zu Eis zu erstarren, doch an seinem Rücken rinnt der Schweiß hinab. Er sieht die gerade Straße hinunter, die von schneebedeckten Birken gesäumt ist. Kein Auto. Er spürt, wie der Wahnsinn ihn ergreifen will, ihm sagt, er solle sich hinlegen, hier und jetzt, aufgeben.
Das hier war der Treffpunkt. Wieder schaut er die Straße hinauf und hinunter. Das ist der Ort, den sie ausgemacht hatten. Doch niemand ist hier. Blindlings setzt er sich in Bewegung, in Richtung Magasinsgatan, rennt beinahe. Sie haben ihn im Stich gelassen. Er hätte es wissen müssen. Dieser kühle Rieber und dieser distanzierte Nyberg, mit ihren stechend blauen Augen. Und Rask! Er hätte es sofort verstehen müssen. An seiner Art, ihn anzureden. Hinkend kommt er an die nächste Kreuzung. Und jetzt brechen die Flüche, die ihm vorhin schon auf der Zunge gelegen hatten, aus ihm heraus: »Zur Hölle! Verflucht! Zum Teufel!« Ihm wird übel. Er beugt sich vor, will sich übergeben, doch es kommt nichts. Der Schneepflug hat einen hohen Schneewall bis an die Hauswand aufgetürmt. Er schaut auf und nimmt in einem der Tore entlang der Straße eine Bewegung wahr. In der Dunkelheit sieht er ein Paar stechende, dunkle Augen, und er steht wie angewurzelt. Es sind Martinssons Augen. Der Geisteskranke. Er starrt ihn an. Martinsson wirkt verändert. Er starrt ihn unverwandt an. Beide verharren unbeweglich. Dann dringt ein kratzendes Geräusch in Wilhelmssons Bewußtsein. Und dort Martinssons reglose, dunkle Silhouette. Er begreift, daß das kratzende Geräusch seine eigenen Atemzüge sind. Er läßt sich in den Schneewall sinken und lauscht auf andere Geräusche, Sirenen, aber nichts ist zu hören. Wieviel Zeit mag wohl vergangen sein? Ein paar Minuten? Eine Stunde? Plötzlich hört er Schritte – dort rennt jemand. Rask! Seine dunkle Jacke, Pelzmütze, noch hat er Wilhelmsson nicht entdeckt. Er steht auf und folgt ihm. Rask dreht sich um und ist außer sich vor Angst, in seiner Panik rennt er noch schneller, wird aber langsamer, als er Wilhelmsson wiedererkennt, dem jetzt bewußt wird, daß Blut auf seine Hände hinunter tropft. Er holt Rask ein und hört, daß er etwas sagt, doch er hört nur Töne, ist nicht in der Lage, sie zu einem Wort zusammenzusetzen. Und da begreift er plötzlich. Da steht der Wagen, hier vor ihm, genau dort, wo sie ihn zuvor abgestellt hatten. Humpelnd und lachend vor Erleichterung schleppt er sich halblaufend auf das Auto zu. Wieder bewegen sich Rasks Lippen, seine Augen sind aufgerissen.
»Die Explosion«, sagt er.