Michel Matveev
Das Viertel der Maler
Roman
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Rudolf v. Bitter
232 Seiten
fadengeheftete Broschur
€ 19,00
ISBN: 978-3-938803-76-9
Erschienen: Dezember 2015
MICHEL MATVEEV hat in diesem Roman den Lebensweg des Künstlers schlechthin beschrieben, anhand seines eigenen Beispiels und seiner eigenen Erfahrungen, Erlebnisse und Beobachtungen. Es ist der Werdegang des Künstlers vom armen Schlucker und verlorenen Bohémien am Montparnasse der 1920er und 1930er Jahre zum erfolgreichen Maler, dem sein Mäzen und Sammler einen Arbeitsaufenthalt auf dem Land finanziert, um den sich die Galeristen bemühen, den die ökonomisch zurückgebliebenen Kollegen und Kameraden bewundern und beneiden – bis ihn die Wirtschaftskrise abstürzen läßt und er zurückkehrt ins Café, wo die anderen alle schon immer gesessen haben.
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MICHEL MATVEEV zeichnet wiederum einen exemplarischen Verlauf, wiederum aus eigener Anschauung und aus eigenem Erleben, als wollte er bloß für sich selbst darlegen und klarlegen, wie es gegangen ist – wie schon in den zuvor entstandenen Büchern seine Teilnahme an der russischen Revolution 1905, dann in DIE GEHETZTEN das Erlebnis des Pogroms, dem Vater und Bruder zum Opfer fielen, und die anschließende Odyssee durch aggressiv antisemitische Ämter, bis er nach Paris gelangen konnte. Jetzt, im dritten Buch, das im Original 1947 erschien, die enge Zugehörigkeit zur Künstlerbohème im Paris der Zwischenkriegszeit. So wird Matveev ungewollt zu einem erstrangigen Zeugen dreier prägender Jahrhundert-Phänomene.
Er selbst war 1923 nach Paris gelangt und machte sich dort bald als Bildhauer von Tierskulpturen einen Namen. Daß er sich ausgerechnet in Paris niederlassen konnte und dort seine Kreise in ebenjener Künstlerbohème hatte, aus der Künstler wie Chagall, Modigliani, Brancusi und vor allen Chaim Soutine hervorgegangen sind, die ähnliche Vorleben aufwiesen wie er, hat mit der Strahl- und Anziehungskraft der europäischen Kunstmetropole Paris zu tun. Chagall, Soutine und eben Constant, wie Matveev sich als Künstler nannte, waren aus ihren jüdischen Umfeldern hierher geflüchtet. Für solche Künstler hatte der etablierte Pariser Bildhauer Alfred Boucher ein Atelierhaus am Stadtrand geschaffen, »la Ruche« (der Bienenkorb), ein Bau von der Weltausstellung 1900, den er auf einem Grundstück am Stadtrand wiedererrichten ließ.
In dem, was Matveev schildert, ist alles enthalten, was das Leben dem Künstler an Emotionen, an Triumphen und Niederlagen bieten kann: Liebeskummer und Eifersucht, Mietrückstand und Flucht vor Gläubigern, künstlerische Selbstzweifel, die Nöte der abgelehnten Immigranten, das Leben in der Bohème und ein Künstlerstolz, der »unwürdige« Tätigkeiten verbietet und in den Hunger führt.
MICHEL MATVEEV (1892-1969) hieß eigentlich Joseph Constantinovsky. Er stammt aus Odessa, von wo er nach den Pogromen 1919 floh. 1923 ließ Matveev sich in Paris nieder und gehörte eine Zeitlang zum Kreis um Joseph Roth. Er studierte Kunst und wurde als Joseph Constant ein damals recht bekannter Bildhauer, dem noch heute ein kleines Museum in Tel Aviv gewidmet ist. Im Weidle Verlag erschienen bereits DIE GEHETZTEN und DIE ARMEE DER NAMENLOSEN REVOLUTIONÄRE. RUSSLAND 1905, beide übersetzt von Rudolf von Bitter.
Leseprobe
In der großen Mehrheit sind sie jung, sehr jung. Schüchtern, sogar ängstlich im Leben, sind sie voller Mut in ihrer Malerei. Die ist wild, sprengt den Rahmen, fordert immer größere Flächen, immer dickeren Auftrag. Auch ihre geschäftlichen Unterfangen erscheinen mir wie alles, was sonst mit ihrer Arbeit zu tun hat, extravagant. Irgendwann beschließt einer, daß es Zeit sei, sich ums Verkaufen zu kümmern. Der uneingestandene Impuls soll uns beweisen, daß unsere Produktion verkäuflich ist. Ehrlich gesagt, ist das eine Kriegserklärung, ein Überfall. Das gesamte Viertel wird vom Fieber erfaßt. Man hört nur mehr Hämmer, die die Leinwände auf die Keilrahmen nageln, man sieht nur noch Maler, die gerahmte Bilder herumschleppen. Dann brechen sie als Schar auf und bieten ihre Bilder egal wem an – der Wäscherin, dem Schuster, dem Metzger. Sie suchen die Läden an der großen Verkehrsader auf. Sie schließen unglaubliche Tauschgeschäfte ab. Nach dieser Energieaufwallung kommen sie mit ihrer Beute heim, vollkommen nutzlosen Zahnpastatuben, Kuchen, Damenstrümpfen…
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Der Hunger. Das war wie Mangel an Schlaf. Ich hielt ihn gut aus. Sogar noch besser. Hunger zu haben, wenn man nicht arbeitet, wenn man keinerlei Pflichten hat, heißt, sich frei zu fühlen, leicht, als sei man bereit, sich in Luft aufzulösen. Man ist frei, und man mag alles. Manchmal allerdings haßt man alles und alle, und die Nachbarschaft dieser widersprüchlichen Gefühle verleiht die Illusion einer erhabenen Überlegenheit. Die Freiheit wird derart groß, daß man das Rote im Schwarzen entdeckt, man wird Dichter. Ich hatte vor allem abends Hunger, kurz vor dem unausweichlichen Wunder, daß ich jemanden fand, den ich um ein paar Francs anhauen konnte. Sonst mußte man die Stunde dieser großzügigen Säufer abwarten, die einen ausgeben, die zu rauchen anbieten und niemals auch nur das Geringste für ein Croissant ausgeben. Der Alkohol ist ja nährreich.
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Ich glaube, daß die Welt voller Wunder ist, daß wir ständig mit dem Wunderbaren in Berührung kommen. Es genügt schon, diesen banalen Tisch aus falschem Mahagoni lange anzuschauen, mit seinen Linien in Geigenform, die Tischdecke darüber mit den Resten der kargen Mahlzeit, die ich wie immer im Stehen eingenommen habe, wobei ich vom Herd zum Tisch, vom Tisch zum Herd gegangen bin. Dieser Teller mit gelblichen Rissen und naiv aufgemalten Porzellanmotiven, die zerknüllte Serviette, ein paar Pfirsichkerne; die Gabel, diese kleinen Gegenstände, die wie graphische Zeichen aussehen, das halbleere Glas, all das vor dem weißblauen Hintergrund der Wände, es genügt, daß ich dies Fragment meines Lebens lange anstarre, dies Stilleben, dieses nicht arrangierte Interieur, es genügt, daß ich sie sanft befrage, als Verwandter, als Freund, damit sie mir ihren Sinn anvertrauen, ihre Wärme, ihr Leben. Man muß ihnen lange zuhören, bis aller Lärm erstirbt, bis Anblick und Klang ein und dasselbe werden, bis die Zeit stehenbleibt, bis nichts mehr in der Erinnerung und nichts in der Zukunft ist, bis dieselbe Beziehung entsteht wie die zwischen Liebenden, die sich zum ersten Mal berühren. Indem ich im Viertel Germain-Dubois mit diesen Gegenständen lebe, diesen paar Gemüsestücken, diesen Möbeln vom Flohmarkt, erfasse ich, wie die Dinge aussehen, wie die Blätter wachsen, wie die Rinde schwingt und sich zum Schutz des weißen Lebens, das im Inneren des Stamms zirkuliert, ausdehnt, wie die Wurzeln in der mürben Erde kriechen, wie sie ächzen voller Sinnlichkeit, wie noch tiefer unten, fern von diesem Durcheinander, die Erde versteint, Fels und Berg wird, die den Winden den Weg verstellen, wie sie sich gleitend abnutzen oder sich ihrer erschreckenden Unbeweglichkeit erfreuen, wie die Seen, die sie einrahmen, den Himmel anrufen, sich im Unwetter gegen ihre Einsamkeit auflehnen. Es ist sehr bedeutend, es ist sehr groß, was man beim Befragen dieser einfachen Küchengeräte in der Stille entdeckt, sie und ihre geheimnisvollen Schatten.
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Ich wende mich von meinem Stilleben ab, und es ist, als ginge ich aus einem Treibhaus der Fäulnis in die zerbrechliche Eiskruste des Außen. Man kann zusehen, wie mein Stilleben stirbt. Es ist kaum mehr als ein Ruinenrest, eine mikroskopische Landschaft von Trümmern und Tod. Es ist das Abgenutzte, das Alte, das Komplexe mit dem Schlichten, die Trennung. Doch auf der Staffelei, auf der Leinwand, lebt es, in Schattierungen, in anrührenden Schwächen, in Einzelheiten, in Zartheit und weichen Linien wie die Gesichter von Frauen, die ein langes bewegtes Leben nachsichtig gemacht hat.
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Ich mache mich wieder an die Arbeit. Schritt für Schritt beherrsche ich es. Die Klagetöne, die Kleinlichkeiten des armen Sujets machen der Fanfare unerwarteter Rottöne Platz, die dem alten Mahagoni entstiegen sind; verräterische Grüns, alterndes Weiß, sogar die zartesten Graus verlieren ihre Schüchternheit, spielen ins Violett neben dem orangefarbenen Rand des Tellers, des angeschlagenen und mit Äderchen überzogenen Tellers, des Herrschers mit seinen ruhigen Strahlen, seinen edlen Krakelüren, die Flecken in Ocker auf dem mit der Zeit ramponierten Material, das glatt ist und Jahrhunderte alt.