Anna Radlowa
Tatarinowa. Die Prophetin von St. Petersburg
Novelle
Aus dem Russischen übersetzt und kommentiert von Daniel Jurjew, Nachwort von Oleg Jurjew.
112 Seiten
Fadenheftung, Broschur
€ 17,90
ISBN: 978-3-938803-72-1
Erschienen: Juli 2015
Herausgeber: Olga Martynova und Oleg Jurjew
Tatarinowa, 1931 verfaßt, konnte zu Lebzeiten Anna Radlowas nicht veröffentlicht werden. Die Erzählung behandelt die russische Geschichte, brandmarkt aber den »Zarismus« nicht, sie spricht von Sektierern, Glaubenshysterikern, Selbstverstümmlern, ohne jedoch antireligiös zu sein. Vermutlich wollten sich die letzten freien und halbfreien Verlage in der Sowjetunion der frühen 1930er Jahre auf einen so gefährlichen Text nicht einlassen. So lag die Erzählung im Archiv, bis sie 1997 zusammen mit anderen Texten von Anna Radlowa (einem Theaterstück und Gedichten) in Moskau erschien – durch das Engagement von Alexander Etkind.
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Die atmosphärisch dichte Novelle spielt im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Es entsteht ein geschichtstreues Bild, in das auch weithin unbekannte Details eingewoben sind. Anna Radlowa arbeitete dafür in Archiven; sie benutzte Briefe und Erinnerungen aus jener Zeit.
Wir verfolgen die Geschichte einer Kastratensekte, der »geistigen Skopzen«, die sich in den höchsten Gesellschaftskreisen der Hauptstadt Petersburg etablierte. Wir sehen lebendige, leidende, sündigende Menschen und ihre Versuche, dem Leid mit Glauben zu begegnen. Wir erleben hautnah, wie die Eiferer und Zweifler (darunter große Persönlichkeiten – Maler, Heerführer, sogar Zar Alexander I. – und einfache Menschen) Katerina Tatarinowa um Hilfe im schwierigen Geschäft des Lebens ersuchen und wie sie ihre letzten Kräfte für diese Hilfe aufwendet.
Katerina Tatarinowa ist eine große, großartige Frau, und die Geschichte ihrer Berufung und ihres Dienstes an Gott und den Menschen ist nicht zuletzt aus psychologischer Sicht lehrreich. Doch die Geschichte ist auch rührend. Und abstoßend. Und verwirrend. Und noch vieles mehr.
ANNA RADLOWA (1891-1949), Lyrikerin und Dramatikerin, war verheiratet mit dem Theaterregisseur Sergej Radlow. Sie starb in einem stalinistischen Lager. Wie Wsewolod Petrow, dessen Novelle Die Manon Lescaut von Turdej im Weidle Verlag erschienen ist, gehörte sie zum Petersburger Kreis um Michail Kusmin. Weitere Werke aus diesem Umfeld werden in loser Folge erscheinen, ausgewählt und herausgegeben von Olga Martynova und Oleg Jurjew.
LESEPROBE
Katerina Philippowna sitzt in einem stark geheizten Zimmer vor einem Schreibschrank. Hinter dem verhängten Fenster die Kälte, der verrückte Petersburger Wind heult, zerrt an den Mantelschößen und reißt die Hüte herunter, bläst die Feuer an den Kreuzungen aus, und der namenlose Petersburger Passant eilt, die Nase im Kragen versteckt, über verlassene Prospekte und menschenleere Ufer nach Hause, vorbei an in die Höhe ragenden Palästen und vor Kälte und Kriegerpflicht erstarrten Wachleuten. – »Daß das Eis auf der Newa bloß nicht durchbrochen wird, daß es nur keine Überschwemmung gibt, bewahre Gott.« – Im Eckzimmer des Michaelsschlosses aber ist es warm und leise, ganz wie im Paradies. Auf dem Schreibschrank brennen zwei Kerzen und beleuchten die hellblauen Wände, die große Ikone des Christusbildes von Edessa und das einfache Zimmermobiliar aus karelischer Birke. Katerina Philippowna liest einen Brief: »Mein Freund, mein Engel! Herz meines Herzens! Wofür beliebt es Gott, mich so zu belohnen? Wohl für die morgige Annahme seiner. Mein Gott! Christus, mein Retter, nimm alles, und erlaube, zu deinen Füßen zu verbleiben. Freund meines Herzens! Schreibe mir, mein Verstand spendender Engel, was dies bedeutet. Mein ganzes Herz fließt über vor Freude. Ach, möge aus unseren Herzen das Herz Jesu Christi werden.« Das schmale Blatt zittert in Katerina Philippownas Hand. »Verstand spendender Engel«, wiederholt sie, »Verstand spendender Engel, und der Verstand spendende Engel selbst verliert den Verstand.«