Leila S. Chudori
Pulang (Heimkehr nach Jakarta)
Roman
aus dem Indonesischen von Sabine Müller
432 Seiten
Fadenheftung, Festeinband
€ 25,00
ISBN: 978-3-938803-75-2
Erschienen: Juli 2015
PULANG (HEIMKEHR NACH JAKARTA) erschien 2012 in Indonesien und erregte viel Aufsehen. Die Autorin war gerade drei Jahre alt, als die Massenmorde an angeblichen Sympathisanten der Kommunistischen Partei Indonesiens im September 1965 begannen. Hunderttausende Menschen starben, weil sie eine eigene politische Meinung hatten. Damit begann die Diktatur von Präsident Suharto. Joshua Oppenheimer hat die Pogrome in seinen Filmen THE ACT OF KILLING und THE LOOK OF SILENCE auf außergewöhnliche Weise dokumentiert.
PULANG (das indonesische Wort für nach Hause) befaßt sich mit dem Schicksal einer Gruppe von Journalisten, die aufgrund der Ereignisse im September 1965 im Exil in Paris leben und nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren können. Pam Allen (»Inside Indonesia«) charakterisiert Leila S. Chudoris Buch als wichtigen Beitrag der Aufarbeitung dieses Themas, als »Gegengift« gegen die offizielle Version der Geschichte, die unter Suharto verbreitet wurde.
—————-
Der Roman verknüpft die historischen Ereignisse mit dem persönlichen Schicksal zweier Generationen. Dimas Suryo, der 1965 im Ausland war und nicht mehr nach Indonesien zurückkehren konnte, lebt als Mitbesitzer eines indonesischen Restaurants in Paris und leidet lebenslang unter seiner Heimatlosigkeit. Lintang Utara, seine Tochter mit der Französin Vivienne, reist 1998 für die Examensarbeit ihres Filmstudiums nach Jakarta und begegnet auf ihre Art der Geschichte und Gegenwart Indonesiens. Sie gerät in die Studentenunruhen, die zum Ende der Ära Suharto führten.
PULANG (HEIMKEHR NACH JAKARTA) ist nicht nur spannend, en passant erfährt man viel über Indonesien und seine Kultur. Vor allem das Essen ist der Autorin wichtig: Für sie ist es Teil der gelebten Kultur ihres Landes, und sie schildert die Kochkünste des Protagonisten detailliert und inspirierend.
Das Buch ist in seiner Struktur komplex gebaut; verschiedene Zeitebenen und Erzählperspektiven setzen das Narrativ gekonnt zusammen. Ein großartiger und groß angelegter Roman, der weit mehr ist als ein Bild Indonesiens: Er ist ein Stück Weltliteratur.
LEILA S. CHUDORI, 1962 in Jakarta geboren, begann bereits mit zwölf Jahren zu schreiben. Ihre Kurzgeschichten erschienen in verschiedenen indonesischen Zeitschriften. Sie studierte Politikwissenschaft und Vergleichende Gesellschaftspolitik an der University of Trent, Kanada. Seit 1989 arbeitet sie als Redakteurin bei der indonesischen Zeitschrift »Tempo«. Darüber hinaus schreibt sie Drehbücher für Fernsehfilme. 2007 wurde sie für ihre Arbeit als Drehbuchautorin ausgezeichnet.
Dieser in ein flüssiges Deutsch übersetzte Roman gewährt detailgenaue Einblicke in die seelische Verfaßtheit eines Landes im Aufbruch, das jedoch ein schweres, unbewältigtes Trauma mit sich herumschleppt. Pulang ist der literarisch gelungene Versuch, über das lange Verschwiegene zu erzählen und der offiziellen Version der zurückliegenden Ereignisse die »Stimmen von der anderen Seite« gegenüberzustellen. Zugleich deutet Leila Chudori an, wie groß und vielfältig die Widerstände in der gegenwärtigen indonesischen Gesellschaft gegen eine intensive Beschäftigung mit der Geschichte noch immer sind.
(Holger Heimann, Kulturaustausch 3/2015)
LESEPROBE
JALAN SABANG (SABANG-STRASSE), JAKARTA, APRIL 1968
Die Nacht war hereingebrochen, unaufhaltsam. Als hätte sich ein schwarzes Wurfnetz über Jakarta gelegt, oder als hätte sich die Tinte eines Riesenkraken über das gesamte Stadtgebiet ergossen. Undurchdringlich wie die Zukunft, die ich nicht vorausahnen konnte.
In der Dunkelkammer sah ich weder Sonne noch Mond. In der Dunkelheit, in die dieser Raum getaucht war, herrschten nur der Geruch von Chemikalien und der Geruch von Angst vor.
Es war nun schon drei Jahre her, daß die Redaktion der Berita Nusantara von »Ungeziefer« und »Schmutz« gesäubert worden war. Die Armee war das Desinfektionsmittel. Wir, die dort arbeiteten, waren das Ungeziefer und der Schmutz. Und wir mußten von der Erdoberfläche getilgt werden. Ohne Spuren zu hinterlassen. Einer dieser Schädlinge verdiente nun seinen Lebensunterhalt im Tjahaja Fotostudio an der Ecke zur Jalan Sabang.
Ich machte die rote Lampe an, um einige Negativstreifen zu überprüfen, die noch zum Trocknen an der Leine hingen. Es muß gegen sechs Uhr gewesen sein, denn ich konnte den Ruf des Muezzins zum Abendgebet hören, der gedämpft zu mir hereindrang. Ich stellte mir die Atmosphäre auf der Jalan Sabang vor, das nervige Knattern der Bemos, die sich träge vorwärtsbewegenden Opelets, das Quietschen der ungeölten Becaks, das Klingeln und Bimmeln der Fahrräder, die sich ihren Weg auf die andere Straßenseite bahnten, und die Verkäufer mit fahrbaren Brotständen, die ihre Waren lautstark anpriesen. Ich konnte mir genau vorstellen, wie der Wind den Geruch der Saté-Spieße aus Lammfleisch herüberwehte.
Die Kakophonie auf der Jalan Sabang gipfelte für uns bei Tjahaja allabendlich im Pfeifen des Kessels, das von Suhardis Verkaufskarren herüberklang. Jeden Abend hielt Suhardi mit seinem mobilen Stand vor dem Fotostudio, und mit der gleichen Regelmäßigkeit kauften wir bei ihm unsere Putu. Dieses Pfeifgeräusch und der Duft der Saté-Spieße von Pak Heri waren normalerweise das einzige, was bis in die Dunkelkammer hineindringen konnte. Alle anderen Stimmen und Geräusche schienen in der Schwärze des Raumes erstickt zu werden. Die süssen Putu- Reismehlbällchen hingegen klopften mit ihrem Duft und dem Pfeifen des Kessels an die Türen und Fenster des Fotostudios. Das war das Zeichen für mich, den Raum, in dem es keine Zeit gab, zu verlassen.
Ich hätte nicht sagen können, warum es mir an diesem Tag widerstrebte, nach draußen zu gehen. Ich sah den Verkaufsraum als einen Ausschnitt der deprimierenden Außenwelt vor mir: Das Licht der Neonlampen ergoß sich auf den Fußboden und in die Glasvitrinen; Suhardjo und Liang bedienten Kunden, die ihre Fotoabzüge oder ihre Paßfotos abholten. Letzteres war in den vergangenen zwei Jahren zu unserer lohnendsten Einnahmequelle geworden. Fast täglich kamen mindestens zehn bis fünfzehn Personen, die um ein Paßfoto baten. Sie benötigten es für ein offizielles Schreiben, in dem sie erklären mußten, daß sie nicht an der Bewegung des 30. September beteiligt gewesen waren.
Das beharrliche Pfeifen am Putu-Stand lockte Kunden herbei. Ich blieb bewegungslos stehen. Mir kam es vor, als mischte sich das Pfeifen des Putu-Kessels mit dem Pfeifen eines Mannes. Dann hörte ich immer deutlicher kräftige Schritte unseren Laden betreten. Ich wußte nicht, was lauter war: das Pfeifen des Putu-Kessels oder mein Herzklopfen.
»Guten Abend«, sagte eine unbekannte Männerstimme.
»Guten Abend«, erwiderte Adi Tjahjono, der Inhaber des Fotostudios Tjahaja.
»Kann ich mit Pak Hananto sprechen?«
Ich konnte nicht hören, was Adi darauf antwortete, aber ich erkannte, daß er alarmiert war. Ich vermutete, sie waren zu dritt oder zu viert.
»Darf ich fragen, wer Sie sind?«
»Ich bin sein Cousin aus Zentral-Java«, sagte eine andere Männerstimme, die sanfter und gebildeter klang.
Adi schwieg.
Ich wußte, Adi Tjahjono würde der Sanftheit und der Freundlichkeit des Mannes, der vorgab mein »Cousin aus Zentral-Java« zu sein, nachgeben müssen. Doch ich hörte nichts. Ich stellte ihn mir vor, wie er angestrengt über eine Antwort nachdachte.
»Hananto Prawiro!« Eine andere Stimme war zu hören, schwerer und drängender. Es klang, als würde sich diese nachdrückliche Stimme Adi Tjahjono nähern und ihm an die Kehle gehen, wenn er weiterhin so tat, als versuchte er sich an etwas zu erinnern.
Ich stand wie angewurzelt in der Dunkelkammer, unfähig, einen klaren Gedanken über die nächsten möglichen Schritte zu fassen. Die Dunkelkammer hatte keine Fenster. Das bedeutete, daß ich – selbst wenn ich mich nach draußen schleichen und fliehen wollte – die Tür zum Verkaufsraum hätte nehmen müssen. Und das bedeutete wiederum, daß sie mich dort gleich erwischt hätten, ganz egal, wie schnell ich auch gerannt wäre. Aber die Wahrheit war: Ich wollte nicht länger auf der Flucht sein. Nicht, weil es ein Leben voller Entbehrungen und in Armut bedeutete. Auch nicht, weil ich meine Entschlossenheit zum Widerstand verloren gehabt hätte. Ich wollte nicht länger auf der Flucht sein, weil mich unlängst diese eine Nachricht erreicht hatte: Surti und die Kinder waren von der Wache der Militärpolizei Guntur in das Distrikt-Militärkommando auf der Jalan Budi Kemuliaan verlegt worden. An diesem Punkt mußte ich Schluß machen. Nicht, weil ich nicht mehr an den Kampf glaubte. Sondern, weil ich wollte, daß Surti und unsere drei Kinder in Sicherheit lebten. Zumindest das war ich ihnen nach den drei Jahren, in denen ich auf der Flucht war, schuldig.