Mooses Mentula
Nordlicht — Südlicht
Roman
Aus dem Finnischen von Antje Mortzfeldt.
Umschlagfoto: Marcel Köppe
264 Seiten
Festeinband, Fadenheftung
€ 23,00
ISBN: 978-3-938803-67-7
Erschienen: August 2014
Gefödert von FILI – Finish Literature Exchange
Schweine züchten, Rentiere scheiden. Rauhe wortkarge Burschen zu seinen Freunden zählen. Schnee, Sauna, Eisbaden. Weite, leere Landschaft. Nordlicht. Marianne hat sich in den ersten Jahren sehr wohlgefühlt in Lappland, mit ihrem Jouni. Weit weg von ihrer eigenen, gut situierten Familie in Kirkkonummi bei Helsinki. Als dann Lenne geboren wird, scheint ihrer aller Leben perfekt im Gleis zu laufen.
Aber dann zerbricht etwas: Lenne bockt in der Schule, weil seine Eltern sich nur noch streiten. Das Leben in Einöde und Eis hat für Marianne nach herben Schicksalsschlägen seinen Charme verloren. Ebenso ihr Mann Jouni, der von materiellen Sorgen gedrückt wird. Für ihn gibt es jedoch keine Alternative zur Existenz eines Rentierzüchters in Lappland, so hart das auch sein mag. Erst igelt Marianne sich ein, kann nicht mehr aufstehen. Dann sucht sie Zerstreuung. Als Lenne einen neuen jungen Lehrer, Jyri, bekommt, dem er sich bald anvertraut, wird es kompliziert. Denn Marianne fühlt sich zu ihm hingezogen. Und auch Jyri ist sie alles andere als gleichgültig.
Mentula zeichnet in seinem sehr gelobten Debütroman den aktuellen Konflikt zwischen Norden und Süden, ländlicher und städtischer Existenz sehr feinfühlig nach, mit viel Sinn für Komik. Gleichzeitig vermittelt er ein Bild des Lebens in Lappland, das selbst vielen Finnen nicht mehr vertraut ist, weil es in der zeitgenössischen Literatur kaum geschildert wird. Der Konflikt ist hochaktuell. Gespannt verfolgt man die dramatische Entwicklung der Figuren, den Zerfall einer modernen Familie.
——————————
Auch davon handelt dieser feine Roman: wie ein Kind, verstrickt in das, was die Erwachsenen für tragisch, aber eben unabwendbar halten, plötzlich selbst erwachsen werden muss. Weil es einsieht, dass es dabei nicht auf seine Wünsche ankommt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung
TILMAN SPRECKELSEN, 12.12.14
»Ruckzucksätze mit Bildern wie mit Axthieben aus einem urigen Schweigen herausgehauen, erzeugen Leerstellen, in denen sich die seelischen Abgründe in der Banalität auftun wie Nordlichter im monatelang fahlen Nachthimmel.«
Berliner Zeitung
SABINE VOGEL, 8.10.14
——————————
Mooses Mentula, 1976 geboren, hat lange in Nordfinnland und Lappland gelebt. Heute leitet er in der Nähe von Helsinki eine Schule. Nordlicht — Südlicht (Isän kanssa kahden) ist sein erster Roman. Die zuvor veröffentlichte Sammlung von Kurzgeschichten, Musta timantti (»Schwarzer Diamant«), wurde vor allem für die Klarheit ihres Stils gerühmt.
Leseprobe
»Ich habe so etwas noch nie gemacht«, sagte er.
Marianne mußte kichern. Sie schaute weg und versuchte offensichtlich ein Prusten zu unterdrücken, aber ihre schmalen Schultern bebten. Jyri schoß das Blut heiß ins Gesicht, seine Halsschlagader pulsierte.
»Also in einer Waschstraße, ich war noch nie in einer Waschanlage.«
Marianne legte eine Hand auf Jyris Hand, die den Schalthebel hielt, und streichelte ihm leicht den Handrücken.
»Ich auch nicht, aber zusammen schaffen wir das bestimmt«, sagte sie.
Mariannes Augen waren furchtsam und entschlossen zugleich: Sie blickten ihn fest an, aber die Lider flatterten.
Sie wurde ernst, und ihre Lippen öffneten sich ein wenig.
»Hey! Fahr los, das Tor geht zu!« rief sie.
Jyri fuhr die Rampe hoch. Vor ihnen leuchteten zwei Lampen mit einem vorwärts weisenden grünen Pfeil. Jyri folgte den Anweisungen und ließ den Wagen langsam nach vorn gleiten, bis das Licht auf Rot umsprang. Ein Schild an der Wand forderte ihn auf, die Handbremse anzuziehen und den Motor abzuschalten. Die Maschine würde den Rest besorgen, die Wäsche würde zehn Minuten dauern, und währenddessen durfte man keinesfalls den Wagen verlassen oder den Motor starten. Das Schiebetor knallte hinter ihnen zu.
Eine robotergesteuerte Schiene senkte sich vom Dach herab vor den Wagen. Sie sprühte einen leichten Wasserschleier auf die Kühlerhaube, dann auf die Windschutzscheibe und aufs Autodach. Marianne knipste ihren Sicherheitsgurt auf, öffnete den Reißverschluß ihrer gefütterten Wildlederjacke und warf die sie auf die Rückbank. Darunter trug sie einen hellbraunen Strickpulli. Die Brustwarzen schienen durch den dünnen Stoff hindurch. Sie winkelte den Arm
an, als wolle sie ihre Brüste schützen, und lächelte ein wenig. Ihre roten Haare waren noch feucht vom geschmolzenen Schnee.
Die Sprühschiene begann eine neue Runde. Aus den Düsen spritzte jetzt weißes Waschmittel, das in dicken Striemen die Windschutzscheibe herablief. Durch die Fenster sah man nichts mehr, im Auto wurde es dämmerig. Der Sprüharm bewegte sich knarrend.
Mariannes Kopf neben ihm verschwand plötzlich. Ihre Rückenlehne schnellte krachend in die Waagerechte. Der Mechanismus der Sitzbank war kaputt, wie fast alles an diesem Auto. Jyri kroch näher, um zu sehen, ob Marianne sich wehgetan hatte. Hatte sie nicht. Sie lag zufrieden kichernd auf dem Rücken, ihre Haare hatten sich wie ein Heiligenschein um ihren Kopf herum ausgebreitet. Jyri nahm denselben Duft wahr wie damals, als Marianne mit der Weinflasche
zu ihm gekommen war. Der Geruch stieg ihm durch die Nase direkt ins Hirn und explodierte rauschend wie ein Wasserfall in seinem Blutkreislauf. Der Duft verdunkelte die Gedanken und machte ihn zu einem Tier.
Rot-gelb-blaue Gummibürsten umzingelten nun den Wagen und begannen ihn hin und her zu schaukeln. Sie rotierten und massierten. Rollen quirlten auf und ab und sorgten dafür, daß keine Stelle ausgelassen wurde. Sie bewegten sich gleichmäßig und sicher. Als die Bürsten das ganze Auto entlanggefahren waren, hielten sie an, und Wasser floß aus den Borsten.
Marianne biß Jyri spielerisch in den Hals und murmelte, das hier sei ihr Heuboden. Jyri schob kräftig mit seinem Becken, versuchte ganz und gar in Marianne zu versinken, so mit ihr zu verschmelzen, daß man sie nicht mehr auseinander bekäme. Die Scheiben beschlugen von ihrem Atem. Jyris Knie schlug gegen etwas, aber er kümmerte sich nicht darum.
Die Rollen drehten sich nun in die andere Richtung. Die Bewegung war kräftiger als vorher, rhythmisch stampfend. Die Bürsten polterten, und die Federung des Wagens knirschte. Nun begann es auch unter dem Auto zu rumpeln. Jyri schien es, als ob alles Getöse und Gepolter von ihm ausginge. Er war zu allem imstande. In dem Moment hörte der Lärm auf. Weicher Regen fiel auf die Windschutzscheibe. Das ließ ihn an einen Sommerabend und einen Rasensprengerdenken. Es wurde schon Abend, aber die Sonnenstrahlen wärmten noch. Diesen Augenblick wollte er nicht loslassen.
Jyri drehte sich neben Marianne auf die Seite. Er blieb mit dem Gesicht in ihren Haaren liegen und ließ seinen Atem wieder gleichmäßig werden. Marianne summte leise und streichelte ihm den Nacken. Plötzlich begann es laut zu rauschen. Ein Gebläse mit hohem Druck blies Luft auf den Wagen. Es beseitigte die Tropfen und den stehengebliebenen Augenblick.
»Gleich ist es zu Ende!« rief Marianne und zerrte ihren Pulli zwischen Tür und Sitz hervor.
Ein grüner Pfeil leuchtete auf, und beide Schiebetore, vor und hinter ihnen, gingen auf. Jyri kletterte auf seinen Sitz und versuchte sich die Hose hochzuziehen. Das war schwierig, weil er nicht genug Platz hatte, um die Beine auszustrecken. Das linke Knie hatte er sich an der Verstellschraube des Sitzes blutig gescheuert. Nun begann er den Schmerz zu spüren. Hinter ihnen war ein Auto aufgetaucht. Dessen Scheinwerfer blinkten, und die Hupe tutete.
Jyri fuhr, mit dem Hosenbund in den Kniekehlen, hinaus. Mariannes Sitz wollte sich nicht wieder aufrichten lassen. Jyri rieb mit dem Ärmel ein Sichtfenster in die Windschutzscheibe und fuhr in Richtung Bibliothek, wo Marianne auf dem Parkplatz in ihr eigenes Auto umsteigen würde. Nachdem Marianne ihren Sitz endlich in die richtige Position gebracht hatte, starrte sie aus dem Seitenfenster, obwohl es so beschlagen war, daß man nicht hindurchsehen konnte. Jyri konzentrierte sich aufs Fahren. Sein Auto war rein, sein Gewissen nicht.
Mentulas Roman über Menschen, die hilflos sind, aber Lebensentscheidungen treffen müssen, hat emotionale Kraft und einen messerscharfen Realismus. 37 kurze Kapitel mit wechselnden Protagonisten porträtieren eine Gruppe von Menschen, die alle eine Heimat suchen. Während der vergangenen Jahrzehnte haben viele Autoren über das normale Leben jenseits der Grenzen Finnlands geschrieben, doch Mentula schreibt gleichzeitig mit Humor und Trauer über eine ländliche Gemeinschaft, die weit entfernt ist von Cafés und Skateboard-Rampen. In dieser Gemeinschaft lebt ein kleiner Junge, dem sein Vater beigebracht hat, ein Lasso über die Hörner eines Rentiers zu werfen, Fischernetze auszulegen. Wird er dort bleiben, oder wird er mit seiner Mutter in eine Mietskaserne im Süden ziehen? Das Verlangen der Erwachsenen nach Heimat ist machtvoll, aber wer fragt, wonach sich das Kind sehnt?
Maria Antas