Rainer Gross
Takt- und Fingerspitzengefühl / Fingertip-Tingling
Bilder und Monotypien 1992-96
Englisch / Deutsch
Mit Texten von Michael Euler-Schmidt und Roland Scotti
80 Seiten,42 Farbabbildungen
Fadenheftung, Leinen-Einband
€ 19
ISBN: 978-3-931135-20-1
Erschienen: 1996
Leseprobe
Takt- und Fingerspitzengefühl
Gross hat reduziert und hat im Verlauf dieser Konzentration ein malerisches Instrumentarium entwickelt, das für sich und in sich Bilder erzeugt. Sein Pinsel gibt nun den Takt an, und das Gefühl in den Fingerspitzen bestimmt die jeweilige Tonlage. Warum und wieso das so ist und welche Zusammenhänge es da gab, begriff ich, als ich ihn im Frühsommer 1996 in New York besuchte. Gross zeigte voller Stolz sein jüngst erworbenes Violoncello. Und er begann das Instrument, das beeindruckend auf einem Stachel ruhte, zu spielen. Die horizontalen und vertikalen Linienführungen von Saiten und Bogen waren vordergründig sichtbare Elemente, die Töne aber lagen darunter. Takt-(Rhythmus) und Fingerspitzengefühl erzeugten so Klangbilder, die in ihrer Farbigkeit, Vibration und Modulation all das besaßen, das ich nun in seinen Bildern entdeckte.
(Michael Euler-Schmidt)
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Silent Crossing
Offensichtlich wird der harmonische chromatische Eindruck aller Gemälde durch einen kleinteiligen, differenzierten Farbpunkt-Auftrag erzeugt. Punkte, kurze – fast impressionistisch (!) zu nennende – Striche und Schraffuren sind zu einer vibrierenden, gelegentlich flimmernden Oberflächentextur verwoben, die – im Detail betrachtet – sowohl an den häufig auf Photos oder im Fernsehen auftretenden Moiré-Effekt als auch an computergenerierte, »virtuelle« Bilder erinnert beide – technisch erzeugten – Bildformen basieren auf der optischen Mischung unzähliger Rasterpunkte beziehungsweise Pixeln, die lediglich aufgrund der Trägheit des Auges als geschlossene Form oder Fläche erscheinen. Doch das wellenartige Schillergewebe der Gemälde von Rainer Gross ermöglicht noch eine andere Assoziation: jene an das traditionelle Weberhandwerk, das in Analogie zum Stricken oft fälschlicherweise als fast rituelle, sich in der Wiederholung der immergleichen Handgriffe erschöpfende »Frauenkunst« bezeichnet, denunziert wird. Diese Verwandtschaft der Oberflächenstrukturen ergibt sich allerdings nicht ausschließlich aus dem Erscheinungsbild, sondern eher noch aus dem Malvorgang selbst, der in seiner repetitiven Konzentration, der scheinbar monotonen Aufschichtung transparenter Farbflächen und der Reihung von Farbakzenten ganz im Dienste des letztendlich sichtbaren Werkes steht – wie im sorgfältig und bewußt gestalteten Handwerk üblich.
Doch entdeckt der aufmerksame Betrachter in dem strukturell-funktionalen Gewebe Elemente, die im Gegensatz zum Handwerk den Zufall als werkkonstituierendes Moment integrieren. So erkennt man deutlich, daß die Farbe des frisch eingetauchten Pinsels – besonders im Falle der »seriell gesetzten« Häkchen – regelrecht erschöpft wird der Pinsel wird erst wieder in den Farbtopf getaucht, wenn auf der Leinwand fast kein Farbton zurückbleibt.
Aufgrund eines im – natürlich vom Künstler bestimmten – malerischen Vorgehen verankerten Zufalls ergibt sich auf der Leinwand ein Rhythmus, der diese einerseits vitalisiert und der andererseits fast kalkuliert wirkt Die Gesetzmäßigkeit des Zufalls – ein nur scheinbarer Widerspruch, man denke an die Fraktaltheorie – realisiert sich optisch. Darüber hinaus visualisiert Rainer Gross wie nebenbei das eigentlich nicht Darstellbare die Dauer des Malens, und damit den Lauf der Zeit. Der Farbrhythmus ist zugleich das Zeitmaß der Ausführung anders formuliert: Das sichtbare Muster, das strukturelle Pattern kündet von dem allmählichen Aufbau der gesamten Kompotion.
Dies muß betont werden, da die Gemälde von Rainer Gross sich kaum an klassisch-hierarchischen Kompositionsschemata orientieren, darin durchaus wieder den Erzeugnissen der schon erwähnten Textilkunst vergleichbar, es handelt sich grundsätzlich um offene Kompositionen, die nach allen Seiten – in der Imagination – erweiterbar, fortführbar sind. Allerdings unterscheiden sie sich – trotz dieses im positiven Sinne dekorativen Ansatzes – von den beliebigen ornamentalen Mustern einer Tapete: Die meisten Gemälde sind zentriert, man könnte gar behaupten, daß sie in ihrer Mitte ruhen. Dies ist vor allem ein Resultat der additiven Arbeitsweise, bei der von außen nach innen (oder vice-versa) Bildelement zu Bildelement gefügt wird, wobei sich je nach Arbeitsrichtung eine Farbverdichtung oder -leichtigkeit in der Mittelzone oder am Bildrand ergibt. Dadurch wirken die Bilder als geschlossene Einheit, selbst wenn sie potentiell unendlich sind.
(Roland Scotti)