Giovanni Orelli
Die Brille des Gionata Lerolieff
Roman
Aus dem Italienischen von Maja Pflug.
114 Seiten
fadengeheftete Broschur
€ 16,90
ISBN: 978-3-938803-62-2
Erschienen: Februar 2014
Im Zug nach Lugano, auf der Rückfahrt von den Solothurner Literaturtagen, stellt der Tessiner Schriftsteller Gionata Lerolieff mit Entsetzen fest, daß er seine Brille verloren hat. Oder wurde sie ihm gar gestohlen? Auf den ersten Blick ein ebenso alltägliches wie banales Ereignis, ist der Verlust seiner Lesefähigkeit für Lerolieff gleichbedeutend mit dem Verlust der ordnenden Perspektive auf sich selbst und seine Umwelt. Die verlorene Brille macht den Weg frei für eine wilde Schar von Assoziationen, Traumgespinsten und Halbschlafbildern. Dabei vermengen sich historische Begebenheiten, autobiographische Reminiszenzen, Zitate aus Literatur und Mythologie vor Lerolieffs geistigem Auge nahezu nach Belieben. Einziger roter Faden in diesem Potpourri von Eindrücken und Erinnerungen sind die Stationen der Eisenbahnstrecke gen Süden: Olten — Sempach — Immensee — Sisikon, sie alle dienen als Stichwortgeber für weitere Ab- und Ausschweifungen und sind damit im doppelten Sinne Etappen einer Reise: einer Reise nämlich, die Lerolieff ins eigene Unterbewußtsein führt und die schließlich alles als eine Frage der Perspektive erscheinen läßt — als ein Mosaik aus Wahrnehmungsfragmenten, ein Kaleidoskop, in dem sich mit jeder Drehung, jeder Wendung ein neues Bild der Wirklichkeit zusammensetzt. Und am Schluß wird dem geplagten Schriftsteller evident, daß es weit Schlimmeres gibt als den Verlust einer Brille. In seinem 2000 erschienenen Episodenroman Die Brille des Gionata Lerolieff (Gli occhiali di Gionata Lerolieff) jongliert Orelli virtuos mit verschiedenen Erzählformen ebenso wie mit Zitaten, regionalsprachlichen Elementen, Klang- und Wortspielen. Der Leser wird selbst zum Mitreisenden.
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Giovanni Orelli, 1928 in Bedretto, Kanton Tessin, geboren, wurde 2012 für sein Gesamtwerk mit dem Großen Schillerpreis der Schweiz ausgezeichnet. Er schreibt Gedichte, Essays und erzählende Prosa. Auf deutsch liegen u. a. die Romane Monopoly, Der lange Winter und Walaceks Traum (ebenfalls von Maja Pflug übersetzt) vor, dazu der Gedichtband Vom schönen Horizont. Giovanni Orelli lebt in Lugano.
Giovanni Orelli gehört gewiss zu den kühnsten, doch auch zu den heitersten Poeten dieses Landes. Ärmer wäre die italienische Literatur und wären die Literaturen der Schweiz ohne die melancholische Anarchie seiner Gedichte und seiner Prosa.
Neue Zürcher Zeitung
Die Gedächtnistätigkeit ist bei Orelli keine Aufbewahrungsarbeit, sondern ein verwegenes Konstruieren und Komponieren. Tonpartikel aus der Vergangenheit, Motivfetzen aus der Gegenwart, alles wird einbezogen in ein transformatives Spiel.
Gertrud Leutenegger
Giovanni Orelli kommt im März zur Leipziger Buchmesse und wird dort sein Buch vorstellen (sofern ihm nicht die Brille abhanden kommt).
Leseprobe
Als er das rechte Auge öffnete und sah, daß der Zug genau neben dem weiß-blauen Riesenschild von Immensee stand, dachte G. L. als erstes: War dies keiner der verfluchten Schnellzüge, die nicht mehr in Immensee halten? Danach fragte er sich: Warum hat er denn gehalten? Mußte eine Schulklasse einsteigen, und sie hatten beantragt und erreicht, daß der Zug dafür anhielt? Lag eine Fremde auf der Durchfahrt in den Wehen und mußte aussteigen? Fuhr vielleicht schon ein Krankenwagen mit heulender Sirene Richtung Bahnhof? Hatte jemand die Notbremse gezogen? Der Prozentsatz an Verrückten oder Geistesgestörten, die in U-Bahnen, Flugzeugen, Zügen, Schulen, ja sogar Kindergärten auftauchen, um Unheil anzurichten, um die Leute zu terrorisieren, um zu töten, nimmt ständig zu. Und in Immensee stand der Waggon, in dem G. L. saß, direkt neben der Bahnhofsuhr. So öffnete der Schriftsteller, dem seine Brille abhanden gekommen oder gestohlen worden war, beide Augen, denn Uhren faszinieren ihn seit seiner Kindheit, speziell Bahnhofsuhren. Er sitzt da und wartet, daß ein Zug jemanden mitbringt oder von dort mitnimmt (parallel, seit dem Lateinunterricht, zu der grammatikalischen Qual mit der Bewegung von einem Ort, der Lage an einem Ort, der Bewegung zu einem Ort, der umschriebenen Bewegung), und es gibt einen Augenblick, dort in den Bahnhöfen, an dem die Zeit stillzustehen scheint. Wenn der Sekundenzeiger den Scheitelpunkt berührt und einen Moment innehält, der, vor allem wenn die Augen schon eine ganze Weile auf die Uhr starren, wie eine Mikroewigkeit wirken kann. Dort in Immensee war es, als sei die Uhr das einzig Lebendige auf dem kleinen Bahnhof; gewiß, Immensee ist nicht Luzern, wo G. L.s Waggon direkt vor einem schmächtigen jungen Mädchen gehalten hatte, das ein Cello in einem Riesenkasten trug, und in jenem Moment (der Zeiger der Uhr stand senkrecht am höchsten Punkt, die Zeit stand still!) wünschte sich G. L. zurückzukehren, wieder zwanzig zu sein und es zu bleiben. Auszusteigen und dem Mädchen zu helfen, das große Instrument zu tragen. Das Mädchen war ganz und gar die Zwillingsschwester einer jungen, in einem Konzert gesehenen Nonne, die so hingebungsvoll der Musik lauschte und sie genoß, daß sie wie verklärt wirkte: Näherte sie sich ihrem Gott? Entfernte sie sich von ihrem Gott? Wenn der Zeiger, in einem jener unermeßlichen Risse in der Sphäre der Zeit, am höchsten Punkt der Uhr stillstand, kehrten derartige Fragen zurück. Nie wird er dieses Mädchen aus Luzern wiedersehen, so wie er auch die Nonne aus dem Konzert nie wieder gesehen hat. Ja, theoretisch gibt es die Chance, eins zu hundert Millionen, doch die Wirklichkeit ist, daß Achilles die Schildkröte nie einholen wird. Moment mal! Es ist ein bißchen wie mit dem 0,9 mit Strich darüber, mit dem dieser Metaphysiker von Mathematiklehrer pragmatisch ein Wunder vollbrachte: Neben dem Pult stehend, beugte er sich sogar herunter, bis er mit der Rechten den dreckigen Boden berührte: null Komma neun neun neun neun … : sagen wir eins: Damit ging er zur Tafel und schrieb eine große 1. Es gibt Wunder.
Ein lachender Achilles konnte der eingeholten Schildkröte in die Augen sehen. Die Schildkröte und der Schnelläufer sind nicht unvereinbar. Doch selbst wenn er sie nie wieder traf, die Nonne von vor vielen Jahren und das Mädchen von vor einer Viertelstunde in Luzern würden in seinem Gedächtnis stehenbleiben wie der Zeiger der Bahnhofsuhr, wenn er oben seinen Kreis vollendet. Danach kann die Phantasie (sagt man so?) unbeschwert weiterspringen wie der Zeiger, der einen neuen Kreis beginnt.
Auf der Durchfahrt durch Sisikon, schöner Name im Herzen des Vaterlands (das er nie verloren hatte, aber die Brille schon, es war wirklich zum Heulen), doch auch ein Name, der im Munde einer Mutter als Flehen, als Aufforderung an das einjährige Kind dienen könnte, das windellos aufs Töpfchen gesetzt wurde: jetzt hier die Körpersäfte frei fließen zu lassen, die entzückenden: für die Mutter. Die Körpersäfte, die das Bläschen ihres lieben Sprößlings füllen. Es ist eines der zu Recht wichtigen Gesprächsthemen beim Wäscheauf- hängen mit der Nachbarin, die ebenfalls Mutter ist. Sì–sì–kon, ja, ja, Sì–sì.–kon … Ja, nicht nur Sisikon besitzt entwässernde Eigenschaften. Man müßte es auch mit Pfäffikon probieren. Wer sagt mir, daß durch diesen Namen, der von mütterlichen Lippen unmittelbar ins schon wohlgeformte Ohr des Kindes und von dort ins ebenfalls schon um ein Jahr gewachsene Gehirn wandert, der angeborene Wille zur Zurückhaltung des Pipis nicht einen Anreiz erhält, die Zügel zu lockern, so daß sich bestimmte Müskelchen entspannen und die Entleerung mit feinem Bächlein genau da ins an dem zarten Popöchen klebende Töpfchen gestattet wird, des (ebenfalls nur für die Mutter) göttlichen Pipis? Und mit Silenen, Ittingen, Gerlafingen, Niederpipp, Pizzamiglio. Oder mit Figino, vielleicht so ausgesprochen, wie die Deutschen es tun: mit stimmhaftem velarem g. Unter Hohn- gelächter der Schweizer Südländer, dieser schmutzigen Italophonen. Oder Pazzalino Sigirino? Mach, mein Tessin, mach ein bißchen Pipi. Gefährlich dagegen die Namen auf -engo, die zum Zurückhalten einladen: Lurengo, Primadengo, Polmengo, Chichenengo, Mairengo, Fichengo. G. L. beschloß also, aufs WC zu gehen.