Rainer Gross
Twins 1997-1998
Malerei
Mit einem Text von Fred Camper
In Zusammenarbeit mit der Galerie Benden & Klimczak, Viersen
80 Seiten, 50 Farbabbildungen
Fadenheftung, fester Einband
€ 19
ISBN: 978-3-931135-37-9
Erschienen: 1999
Der in New York lebende Künstler Rainer Gross beschäftigt sich in seiner neuen Werkgruppe mit dem Doppelbild. Seine abstrakten Arbeiten, die aus dem Aufeinanderlegen zweier mit Pigment und Öl präparierter Leinwände entstehen, verbinden geometrische Muster mit leuchtenden Farben und Elementen der Décollage.
»Der Betrachter sieht sich zwischen das Harmonische, die bewußt strukturierte Schönheit, sei es eines absolut kontrollierten Kunstwerks oder eines gepflegten Panoramafensterblicks, und jene elementare, chaotische Schönheit gestellt, wie man sie in den gewachsenen Mustern von Flechten, in einem an der Mauer verwitternden Plakat oder in den Streifen und Flecken eines alten, verblaßten Kinofilms findet.«
Fred Camper
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Leseprobe
Wer die »Twins« zum erstenmal sieht, wird womöglich ein wenig verwirrt reagieren.
Jede Arbeit dieser Serie besteht aus zwei gleichgroßen, Seite an Seite hängenden und ihrer Struktur nach ähnlichen Bildern, die nur durch einen Zwischenraum von ein paar Zentimetern getrennt sind. Sie erscheinen uns irgendwie verwandt, obwohl ihre Muster nicht die gleichen sind: Dies sind keine identischen, keine »eineiigen« Zwillinge. Und doch: Linien und Farben wiederholen sich, finden ein fast unheimliches Echo im jeweils anderen – Ähnlichkeiten, die wiederum zu groß sind, daß es sich um »zweieiige« Zwillinge handeln könnte. Bei näherer Betrachtung erkennen wir: Würde man die eine Tafelum 180 Grad drehen, würde aus ihr ein ungefähres Spiegelbild der anderen. Doch auch so gesehen erweisen sie sich nicht als exakte Spiegelungen. Ein rotes Viereck auf der einen Hälfte wird auf der anderen gänzlich fehlen.
Die Bilder scheinen auf ihrem Grund geometrische Muster zu haben, die sich meist aus geraden Linien und Rechtecken zusammensetzen, aber irgendwie gefährdet sind: überall blättert Farbe ab dicke Flecken einer bestimmten Farbe überlagern Flecken von anderer Farbe. Der Betrachter fragt sich unwillkürlich: Wie sind diese Bilder entstanden?
Gross beginnt damit, daß er verschiedene Schichten mit Wasser vermischter Farbpigmente auf die Leinwand aufträgt und geometrische Farbfelder anlegt, deren mit der Hand gezogenen Ränder nicht unbedingt gerade sind. Dann trägt er auf eine andere, gleichgroße Leinwand manchmal in einem ähnlichen Muster – Ölfarbe auf, manchmal nur eine einzige Farbe. Schließlich preßt er beide Hälften mit einem gewissen Druck zusammen. Dabei lösen sich manche Pigmentbereiche und legen sich auf die Ölfarbe, verdecken sie, während an anderen Stellen die Ölfarbe an der Pigmentseite haften bleibt und sie bedeckt. Diese verschiedenen Arten von Transfer vollziehen sich unregelmäßig. Eine pfirsichfarbene Fläche kann zum Beispiel ungleichmäßig blau gefleckt aus dem Verschmelzungsprozeß hervorgehen.
Das Ergebnis der Drehung ist zutiefst verwirrend. Wer ein Gemälde betrachtet, ist geneigt, nach einer Art Sinn zu suchen. Welche Erkenntnis, welcher emotionale Zustand wird durch das Nebeneinander zweier verschieden getönter blauer Streifen vermittelt? Die lange Geschichte der abstrakten Kunst (und der sie begleitenden Rhetorik) hat uns gelehrt, daß jede Art von Gemütszustand oder auch ganze Bereiche von Spiritualität in eben solchen Nebeneinander zu finden sein können oder daß der Maler zumindest die Absicht hatte, solche Möglichkeiten anzudeuten.