Jörg W. Gronius
Horch
Roman
Umschlagphotos: Gerhard Spring
Auch als e-book erhältlich.
208 Seiten
Fadenheftung, fester Einband
€ 21
ISBN: 978-3-938803-36-3
Erschienen: Februar 2012
Nur das, woran man sich erinnern kann, ist wirklich. Im Moment des Erinnerns wissen wir, daß es wirklich war. Im Moment des Erlebens ist die Wirklichkeit noch gar nicht gegeben. Womöglich ist es ein Traum.
Erst beim Erinnern, um das Erlebte erzählen zu können, werden wir uns der Wirkung bewußt. Alles, was erzählt werden kann, ist wirklich. Vom Geborenen kann die Geburt nicht erzählt werden, vom Gestorbenen nicht der Tod. Geburt und Tod sind nicht wirklich. Nur das bißchen Leben dazwischen. Man muß sich beeilen.
Der Roman ist die Entstehungsgeschichte seiner selbst. Horch hat sich von allem verabschiedet: vom Beruf, von Frau und Kind. Familie widert ihn an. Warum spielen Erwachsene noch immer Vater-Mutter-Kind? Familiäre Idylle löst bei ihm Panik aus, Depression und Suizidgedanken. Nun, mit Ende Vierzig, ist er in einer Werbeagentur in Hannover gelandet. Die Stadt ist Baustelle und fiebert der Weltausstellung entgegen. Horch jobbt als Texter von Politreklame für den Wahlkampf zur Kanzlerwahl. Freiberuflich und unverbindlich.
Auf einer Vortragsreise, die ihn nach Wien führt, spricht ihn ein junges Mädchen an: »Du sollst der Vater meiner Kinder sein.« So ganz aus heiterem Himmel. Diese Begegnung – eine Szene wie im Kitschfilm – lockt ihn noch einmal ins wirkliche Leben zurück. Ist Wien nicht die Stadt mit dem Goldherzl? Doch der Himmel über der Donau bleibt nicht heiter. Bedrohliche Flugbewegungen künden vom Balkankrieg. Das Experiment einer neuen, jungen Liebe erweist sich als – im wahren Wortsinn – tierischer Fehlgriff.
Am Ende ist Horch wieder nur als Werbetexter gefragt, doch die politischen Verhältnisse haben sich verschärft. Das Kapital hat – im buchstäblichen Sinne – die Lufthoheit errungen, landesweit. Da bleibt nur noch die Flucht auf eine einsame Insel.
Blick ins Buch
Jörg W. Gronius (geb. 1952 in Berlin) lebt als freier Autor in Saarbrücken. Im Weidle Verlag erschienen seine drei autobiographischen Romane Ein Stück Malheur, Der Junior und Plötzlich ging alles ganz schnell.
LESEPROBE:
Berggasse. Der Name ist Programm. Ging es doch zu Freuds Zeiten immer um das Besteigen. Eine Frau wurde bestiegen, weshalb in den Träumen davon, die Wunschträume waren, weil unerfüllbar, es sei denn um höchste Preise, Treppen vorkamen, hohe Bäume oder steile Berge. Berggasse also, da sollte was erstiegen werden, dabei gehen wir abwärts. Von der Währinger Straße geht die Berggasse ordentlich bergab.
Berggasse 19. Ein älterer Herr mit Pelzkragen und einem Hut, wie ihn Adenauer trug, kommt aus der Tür. Geht mit knarzenden Schritten die Straße hinauf. Ledersohlen auf Schotterresten. Schwarzer Weg. Tür Nummer 19, Museumseingang. Ziselierte Scheiben. Nennt man das so ? Ins Glas geätzte Ornamente und Allegorien. Damen mit Füllhorn und Pfeil und Bogen. Fortuna und Diana. Die Treppe aus Marmor, jetzt also steigen, ein kurzes Stück bis zum Mezzanin, also nicht so hoch, daß man es nicht hätte schaffen können, damals in der Wunschtraumzeit. Angsttraumzeit. Angst Raum Zeit.
Im engen Flur die Garderobe hinter Glas. Hut, Stock, Mütze, Plaid. Als könnte er jeden Moment aus dem Behandlungszimmer kommen und zum Mittagessen gehen. Wartezimmer. Dumpfe Stube mit Plüschsesseln, Perserteppich, Palmwedel vor dem Fenster mit schweren Stores, noch schwereren Vorhängen und Schabracken, Brokat, Gründerzeit in Eiche massiv. An der Wand »Der Albtraum« von Füssli. Damit jeder Patient gleich wußte, worum es ging: um die nackte weiße Frau. Gegenüber ein kleiner Intarsienschrank mit Glastüren oder wohl besser Kristall. Anrichte. Nennt man das so? Eine kleine Anrichte. Was Albträume alles so anrichten. Was Eltern bei ihren Kindern alles so anrichten.
Überall Portraits. Photographien, die ihn am Schreibtisch zeigen, rauchend, lesend, schreibend. In einer Vitrine der Füllfederhalter, eine Brille, wie sie später John Lennon zur Mode machte. Freud war ein gutaussehender Mann. Ein Mann zum Verlieben auch ohne Neurose. Ich sage: »Eigentlich sieht er aus wie Curd Jürgens.« Sie zieht die Schultern hoch. Zu jung, um Curd Jürgens zu kennen. Wie alt sie wohl sein mag?