Bei Dao
Gottes chinesischer Sohn.

Essays
Aus dem Chinesischen und mit einer Nachbemerkung
von Wolfgang Kubin.
216 Seiten
Fadenheftung, Broschur,
€ 19
ISBN: 978-3-938803-37-0
Erschienen: 15.12.2011

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Golden Wreath 2015 für Bei Dao
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Essays für Lyrikleser, Chinainteressierte und alle, die das Thema der Heimatlosigkeit berührt. Einer der wichtigsten und weltweit berühmtesten chinesischen Lyriker wendet sich dem Essay zu und damit in ganz neuer, sehr unmittelbarer Weise seinen Lesern. Fast sind es Briefe an sein Publikum, die von den Stationen seines Exils erzählen. Mitunter seltsame, auch abenteuerliche Erlebnisse auf einer Irrfahrt, die den Poeten zunächst zu anderen Poeten wie Tomas Tranströmer, Allen Ginsberg, Gary Snyder und Breyten Breytenbach und deren Heimatorten führt, bis er schließlich in den USA selbst ein wenig das Zuhausesein versucht. Diese Texte überraschen mit der Möglichkeit, einem Dichter unerwartet sehr nahe zu kommen. Sie öffnen eine Tür ins Herz seiner Verse und wecken das Verlangen, sie kennenzulernen oder wiederzuentdecken.

»Am Abend des 3. Juni (1989) kam ein junger Bursche namens Zhou zu mir. Dieser Pekinger wollte sich mit mir die Nachrichten auf CNN anschauen. Wir leerten dabei eine Flasche Whisky. Während meiner Telefonate mit Peking hörte ich Gewehrschüsse. Am nächsten Morgen stolperte der kleine Zhou die Treppe herauf und weinte sich in meinen Armen aus. Auch dieser Moment machte mir klar: Der Weg nach Hause war für mich abgeschnitten, ich hatte keine Heimat mehr. Ich konnte nur noch in die Ferne ziehen.«
Bei Dao (1949 geboren) konnte nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 nicht mehr nach China zurückkehren. Seine Frau und Tochter durften erst sechs Jahre später aus China ausreisen. Bei Dao lebt und unterrichtet heute in Hong Kong. Er war mehrfach für den Nobelpreis nominiert.

Blick ins Buch
LESEPROBE:

Das blaue Haus liegt auf einer kleinen Insel nahe Stockholm, es ist das Landhaus des schwedischen Dichters Tomas Tranströmer. Es ist winzig und alt. Es kann die strengen Winter in Schweden nur überstehen, weil es immer wieder repariert und gestrichen wird.Ende März dieses Jahres ging ich nach Stockholm auf eine Konferenz, die deprimierend und langweilig war, wohl so wie Konferenzen überall auf der Welt. Einen Tag vor der Abreise hatten Annika und ich uns zu einem Besuch bei Tomas in Vasteras verabredet. Von Stockholm bis zu dieser Stadt braucht man zwei Stunden. Annika fährt einen roten Saab. Der Himmel war düster, ab und zu fielen Schneeflocken. Der Frühling hatte in diesem Jahr auf sich warten lassen, die trübseligen Wälder lagen noch in tiefem Schlaf, die Felder gaben sich graublau, kahl lagen sie da, hoben und senkten sich mit der Fahrbahn.

Ende Sommer 1983 ging ich eines Mittags mit Annika in ein sichuanesisches Restaurant in der Wollgasse am Xidan von Peking zum Essen. Als wir aus dem Wagen stiegen, gab sie mir ein Päckchen und sagte, es sei Tomas' neuester Gedichtband, Platz der 6 Barbaren, beigefügt seien die englische Übersetzung und ein Brief von Göran Malmqvist, in dem er mich fragte, ob ich die Gedichte ins Chinesische übersetzen wolle. Es war dies das erste Mal, daß ich den Namen Tranströmer hörte.
Wieder daheim, übersetzte ich mit Hilfe eines Wörterbuchs neun Gedichte. Und tatsächlich, sie waren stark. Die Bilder waren ungewöhnlich und brillant, der Ton suchte seinesgleichen. Glücklicherweise war ich sein erster chinesischer Übersetzer. Was westliche Lyrik betraf, saßen wir in China damals noch in den Startlöchern.
Im Frühling 1985 war Tomas zu einem Besuch nach Peking gekommen. Ich holte ihn im Hotel Bambusgarten hinter dem Trommelturm ab. Das war ursprünglich der Wohnort von Kang Sheng gewesen. Die Anlage ist so riesig, daß man ganz perplex ist. Kaum im Taxi, waren wir beide etwas verlegen. Mein Englisch wollte damals nicht so richtig in Fahrt kommen, selbst Gesten, begleitet von einzelnen Worten, waren nutzlos. Ich hielt einfach den Mund.