Peter Tollens
Transit
Hg. von Gisela Clement und Michael Schneider.
Mit Essays von Justus Jonas und Joseph Marioni.
72 Seiten mit 43 Abbildungen
21 x 29 cm, broschiert
€ 25
ISBN: 978-3-938803-40-0
Erschienen: 9. September 2011
Herausgeber: G. Clement, M. Schneider (Hg)
Malen und Gehen
Inmitten zwischen roten, dunkelgrauen und ockerfarbenen Bildern, deren rauhe Oberflächen von einer staubtrockenen Brüchigkeit sind, die es mit der Spätstimme Bob Dylans aufnehmen könnte, fallen mir im Atelier zwei kleine Landschaften ins Auge. Tollens ist in Kleve geboren, den Niederrheinern wird eine besondere Nähe zur Landschaft ihrer Herkunft nachgesagt, und aus seiner "Erdverbundenheit" hat der Künstler nie ein Hehl gemacht. Beide Tafeln lassen eine menschenleere Felderlandschaft unter einem weit nach oben gerückten Horizont erkennen, die eine im Sommer gemalt mit grün-braunen Weide- und Ackerflächen, die andere unter winterlicher Schneedecke. Die ähnliche Staffelung des Motivs legt den Schluß nahe, daß es jedes Mal vom gleichen Standort eingefangen worden ist. Der Farbauftrag ist dem der monochromen Bilder verwandt und trotzdem in Form und Richtung deutlich von letzteren unterschieden. Horizont und Perspektive, wie sie die beiden Landschaften – selbst als abstrahierte – wiedererkennbar machen, wird man in den Farbbildern Tollens vergeblich suchen. Welche Beziehung ließe sich also zwischen Natur und autonomem Farbbild jenseits von Aspekten abbildlicher Nachahmung oder materieller Beschaffenheiten wie dem Erdigen behaupten?
Berücksichtigt man die Tatsache, daß das Malen von Landschaft schon immer nicht bloß mimetische Darstellung, sondern auch persönliche Erschließung von Natur war, so drängt sich mit Blick auf die beiden Abbilder von Tollens tatsächlich eine Verbindung zwischen Landschafts- und Farbfeldern auf. Liegt es an der Art ihrer jeweiligen "Kultivierung", gleichsam der "Bestellung" eines begrenzten Feldes? Existiert eine Parallele zwischen der Topographie von Landschaft und der des Farbbildes?
Wie kommt es, angesichts der Bilder von Tollens, eine Beziehung zwischen Malen und Gehen zu empfinden und plötzlich an die schreitenden Figuren Giacomettis denken zu müssen in ihrem exzellenten Spannungsverhältnis zwischen großer Schrittgebärde und Kleinteiligkeit ihrer Oberfläche?
Ähnlich wie der traditionelle Landschaftsmaler von Patinir bis Monet und Cézanne das anschauliche Wandern und Fortbewegen in der Natur (sei es mit Figuren oder ohne) zum visuellen Bestandteil des Bildes macht und dessen ästhetisches Gelingen von Entscheidungen des Ausschnitts und der Komposition abhängt, wird dem Betrachter allein durch Spuren, Markierungen und Richtungsänderungen der Farbe die Möglichkeit eröffnet, den Bild-Raum ähnlich einer Landschaftsdarstellung als visuellen zu ergründen und in ihn einzutreten. (Dies mag bei den großformatigen Leinwänden von Tollens leichter fallen als bei den kleinen Bildern, wo man stärker dazu verleitet ist, sofort zum Umriß des Ganzen zu springen und den Gegenstand einzugrenzen.) Ohne die Parallelität in der Konstruktion von Landschaft- und Farbfeldmalerei überzustrapazieren, existiert bei Tollens ein jeweils spezifisches und ganz unterschiedliches Größenverhältnis zwischen Pinselstrich (touch) und Bildgröße (scale), das in bestimmten Gradationen zwischen Nah- und Fernsicht oszilliert und den Abstand des Betrachters zum Bild automatisch mitbestimmt. Es verbleibt damit nicht im Zustand der Hermetik und radikaler Autonomie, sondern signalisiert dem Betrachter im Gegenteil die Bereitschaft zu visueller, physischer und emotionaler Öffnung.
(Justus Jonas)