Wolfgang Kubin
Unterm Schnurbaum
Deutsch-Chinesische Wahlverwandtschaften. Essays
Leseprobe
256 Seiten
fadengeheftete Broschur
€ 19
ISBN: 978-3-938803-15-8
Erschienen: Juli 2009
Herausgeber: Erstveröffentlichung
Bei den Kirgisen hat sich noch die Sitte erhalten, Gäste am Ortseingang mit Schnaps und Gebäck zu begrüßen. Man nennt dieses »Xiamajiu«, eine feuchte Bewirtung. Der 52prozentige Schnaps wird in kleinen Bechern ausgeschenkt und dient der Einstimmung auf die kommende Rezitation des kirgisischen Epos »Manas«.
Wer bei Kirgisen »von einem Pferd absteigt«, hat auch von Kirgisen beköstigt zu werden. Wir wissen, was das bedeutet.
Während des Essens sollen wir mit den Herren des Hauses im Wechsel große Schnapsschalen leeren. Jede Schale, gefüllt mit zwei Liang, das sind 100 ml, ist auf einem Tablett in Empfang zu nehmen, ex zu trinken und wieder auf das Tablett zurückzustellen. Ich bin der einzige, der in kleinen Schlucken trinkt. Bei der zweiten Runde geben die ersten auf und müssen sich verziehen. Wer jetzt noch keine Probleme hat, wird diese bald bekommen. Nach der dritten Runde meinen wir, noch eher nüchtern als trunken, zunächst Gesang und Tanz auf dem Großen Platz in praller Sonne und dann dem Polospiel mit totem Lamm unter verhangenem Himmel am Stadtrand beizuwohnen. Im ersten Fall sitzen wir auf Stühlen und langweilen uns im Anblick sowjetischer Architektur; im zweiten Fall sitzen wir zu Pferde und genießen das wilde Treiben der Reiter, die, in zwei Mannschaften aufgeteilt, ein Tier statt einer Kugel mit den Händen von einem Tor zum anderen zu bringen haben. Dabei fliegt das Lamm immer wieder von Mitspieler zu Mitspieler durch die Lüfte.
WDR 3 Mosaik, 27.März 2010
Eine Reise durch China ist eine Reise von Geschichte zu Geschichte–So beschreibt der Bonner Sinologe Wolfgang Kubin seine Erfahrung, dass sich ein die Sinne überfordernder Gigant wie China nur über Anekdoten und Tragödien erfassen lässt. Ein Dichter erschlägt seine Frau mit einer Axt. Ein junger Mann ertrinkt beim Liebesspiel im Meer. Menschen verschwinden in jahrelanger Haft – Kubins Essaysammlung “Unterm Schnurbaum” ist ein Stoff-Fundus für rätselhafte Geschichten. Seit Mitte der 70er Jahre reist er regelmäßig nach China. Jetzt sind seine kritischen Reflexionen zur rasanten Modernisierung, zum Turbokapitalismus in der Volksrepublik, aber auch zu Fußballkult und Esskultur in einem sehr persönlichen Band erschienen.
Ein Nostalgiker in China – Ein Studiogespräch mit Wolfgang Kubin
Wenn der Sinologe, Übersetzer und Dichter Wolfgang Kubin zu einer seiner vielen China-Reisen aufbricht, rüstet er sich für sinnliche Abenteuer. Diese literarischen Treffen zwischen Asien und Europa verlaufen alles andere als akademisch. Da schaffen sich Poeten aus Leibeskräften neues poetisches Material. Daß die starken Bilder in den fesselnden Versen aus solch wilden Momenten rühren, hat sich manch Lyrik-Freund nicht selten ausgemalt – dieser Essayband nun läßt teilhaben am dionysischen Ursprung aller Dichtung.
Wolfgang Kubin erhielt 2007 den Staatspreis der Volksrepublik China für besondere Verdienste bei der Bekanntmachung der chinesischen Buchkultur. Im selben Jahr wurde er mit dem höchsten Literaturpreis Chinas, dem Pamir International Poetry Prize, ausgezeichnet. Seine »Geschichte der chinesischen Literatur im 20. Jahrhundert« wurde 2008 in China unter die zehn besten Sachbücher des Jahres 2008 gewählt. Im Weidle Verlag sind bereits drei Lyrikbände von ihm erschienen: Das neue Lied von der alten Verzweiflung (2000), Narrentürme (2002) und Schattentänzer (2004), außerdem seine Übersetzung der Kaffeehauslieder von Zhai Yongming (2004).