Salamon Dembitzer
Visum nach Amerika

Roman
Mit einem Nachwort von Ursula Seeber
320 Seiten
fadengeheftete Broschur
€ 21
ISBN: 978-3-938803-13-4
Erschienen: März 2009

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Gerade dreißig Stunden ist es her, daß im Radio verkündet wurde, Deutschland denke nicht daran, die neutralen Länder Belgien und Holland anzugreifen, als die ersten Bomben auf Brüssel fallen. Sylvian Horn und seine Freundin Malvine van Gent befinden sich plötzlich auf der Flucht und teilen mit so vielen anderen ein Schicksal: von den Deutschen verfolgt zu werden und keine neue Heimat in Frankreich zu finden. Denn bald wird deutlich, daß die Wehrmacht nicht an der Grenze zu Frankreich haltmacht, und so bleibt nur der Ausweg, über Spanien nach Portugal zu kommen. Lissabon ist der letzte offene Hafen Europas, die letzte Hoffnung der Verfolgten. Mit schonungsloser, an Céline erinnernder Direktheit schildert Dembitzer die Geschichte einer Liebe unter den Bedingungen von Entbehrung, Furcht und Heimatlosigkeit.
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Als spannenden Tatsachenbericht kündigte das Israelitische Wochenblatt für die Schweiz 1974 den Fortsetzungsroman an, der dort erstmals in der Originalsprache erschien. Dembitzer verarbeitete in dem in New York geschriebenen Roman seine Flucht von Belgien über Frankreich und Spanien nach Portugal. Unter dem Titel Visas for America. A Story of an Escape erschien das Buch 1952 in Australien.

Salamon Dembitzer (1888 in Krakau geboren, 1964 in Lugano gestorben) schrieb in den 20er Jahren für die Welt am Montag, den Vorwärts, das Berliner Tageblatt und die Arbeiter-Zeitung, Wien. Im März 1933 emigrierte er nach Holland. Sieben Jahre später flüchtete er aus Belgien über Frankreich nach Lissabon, um von dort in die USA einzureisen. Er lebte bis 1947 in New York, dann übersiedelte er nach Sydney, wo er einige Bücher publizierte. Ab 1958 lebte er in der Schweiz, ohne noch etwas zu veröffentlichen. Im Weidle Verlag erschien 2007 sein Roman Die Geistigen, herausgegeben und mit einem Nachwort von Uta Beiküfner.

LESEPROBE:
Biarritz war nicht mehr Biarritz. Die Einwohner drückten bereits öffentlich ihre Unzufriedenheit über die zuströmenden Flüchtlinge aus. Nicht nur sämtliche Hotels, sondern auch alle Privathäuser waren bis zum letzten Bett besetzt, alle Geschäfte ausverkauft, und vor den Schuhläden standen die Menschen Schlange.

In der Nähe des Strandes erblickten die Horns zwei ältere Menschen, einen schmächtigen, verrunzelten Mann, der auf einem Bein hinkte, neben ihm eine dicke, rotwangige Frau.

»Komisches Paar«, meinte Malvine.

»Das ist der russische Schriftsteller Mereschkowski. Es wäre gut, seinen Rat zu hören, was er denkt und was man tun müßte.«

Eine halbe Stunde später war Malvine in seinem Hotelzimmer, stand ihm gegenüber und hörte seine Antwort: Falls die Preußen nach Biarritz kämen, würde er nach Saint-Jean-de-Luz gehen.

Das war alles. Als ob die Deutschen nicht auch noch die fünfzehn Meilen weiter marschieren könnten! Ach, wenn man sich schon beraten mußte, dann doch lieber mit Krochmann, der nicht fünfundsiebzig Jahre Weisheit und Literatur hinter sich hatte, sondern Ingenieur war, dreißig Jahre alt und bereit, für einige Tausend Francs ein portugiesisches Visum zu besorgen.

Dann liefen die Horns mit den anderen wieder in den Straßen umher. Es waren hastige und nervöse Menschen, die jeden Augenblick vor einem Kaffeehaus stehenblieben und ungeduldig auf neue Radiomeldungen warteten.

Auch dieser Tag ging zu Ende

[…]

Am folgenden Tag war die Erregung in der Stadt noch größer als sonst. Wilde und tolle Gerüchte schwirrten umher: Einer erzählte, Paris sei bereits gefallen und die Regierung habe sich nach Bordeaux begeben. Ein anderer entgegnete darauf, daß dies ganz ausgeschlossen sei, weil die Regierung erst vor kurzem erklärt hatte, daß Paris bis zum letzten Haus verteidigt werden würde. Doch der erste blieb bei seiner Behauptung und fügte hinzu: »Einige Bomben haben genügt …

In den Straßen von Biarritz sah man plötzlich Soldaten auftauchen; sie versperrten den Zivilisten den Weg und verlangten ihre Ausweispapiere. Dann hieß es, daß sich alle Flüchtlinge wieder melden müßten. Außerdem gab die Regierung den Befehl heraus, daß im größten Augenblick der französischen Geschichte Frauen nicht in Hosen auf die Straße gehen dürften. Daraus konnte man ersehen, daß sich die Regierung keineswegs passiv verhielt, sondern die große Stunde der französischen Geschichte durchaus begriffen hatte.