Eric Koch
Die Braut im Zwielicht.
Erinnerungen.
Mit einem Vorwort von Alfred Grosser.
Aus dem Englischen von Ruth Keen und Stefan Weidle
232 Seiten, zahlreiche Abbildungen
Fadenheftung, Festeinband
€ 23
ISBN: 978-3-938803-11-0
Erschienen: Oktober 2008
Gefördert von der Martha Pulvermacher Stiftung
Die Lebenserinnerungen von Eric Koch umspannen eine lange Zeit: Sie zeichnen ein Panorama, das von der Jahrhundertwende bis in die Gegenwart reicht. Die jüdische Familie stammt aus Frankfurt. Der Vater, ein Juwelier, stirbt schon drei Monate nach der Geburt seines Sohnes. Nach dem Machtantritt der Nazis entschließt sich die Familie zur Emigration; Eric kommt nach England, wird 1940 als »enemy alien« interniert, zunächst u. a. auf der Isle of Man. Einige Wochen später wird er per Schiff in ein kanadisches Camp verlegt, wo er bis November 1941 festgehalten wird. Eric Koch hat mehr als eine Autobiographie geschrieben,sein Buch ist die Geschichte mehrerer Generationen seiner Familie, gleichzeitig ein Sittenbild Frankfurts in der Vorkriegszeit. Jedes Kapitel verwendet eine andere Erzähltechnik:
Brief, Tagebuch, Rundfunkreportage, Hörspiel, Erzählung, Interview, Drama: so ungewöhnlich wie spannend.
Eric Koch wurde 1919 in Frankfurt am Main geboren. Nach Kriegsende blieb er in Kanada, studierte dort und arbeitete 35 Jahre als Rundfunkjournalist bei CBC. Heute unterrichtet er an der York University. Er hat zahlreiche Bücher geschrieben, auf deutsch liegen u. a. vor: Nobelpreis für Goethe; Hilmar und Odette: Zwei Leben in Deutschland; Liebe und Mord auf Xananta. Eric Koch lebt in Toronto.
»Das Buch enthält keineswegs nur spannend erzählte Geschichten. Es handelt sich doch auch um Memoiren, verbunden mit Selbstbefragungen, deren Darstellung mutig sein mag, z.B. wenn Erich / Otto nicht weiß, ob er zum Soldatentod bereit ist – oder zum Töten ehemaliger Schulkameraden … Man weiß nicht, warum die Geschichte dieses oder jenes Menschen so ausführlich erzählt wird, bis man begreift, daß der furchtbare Tod im Rückblick dem Leben eine besondere Beleuchtung verleiht – auch wenn die Erzählung voller Humor gewesen ist.«
(Alfred Grosser)
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Leseprobe
Während sie die Rheinstraße entlanglief und so dem täglichen Schulweg ihrer Söhne folgte, überlegte sie, was im Goethe- Gymnasium eine Mitgliedschaft bei der Hitlerjugend eigentlich bedeutete. Es war in allen Schulen üblich, daß junge Leute sich einer Jugendgruppe anschlossen, wenn sie wollten. Die Hitlerjugend war eine von ihnen. Junge Juden gehörten zu den zionistischen »Werkleuten« oder zum nicht-zionistischen »Schwarzen Fähnlein«. Robert spielte mit dem Gedanken, zu den Werkleuten zu gehen. Zweifellos war er von Emil Netters Interesse am Zionismus beeinflußt worden. Emil schickte regelmäßig Lieferungen aus seiner umfangreichen Bibliothek, die er sich während seines zehnjährigen Aufenthalts in Davos aufgebaut hatte, an die Hebräische Universität in Jerusalem, die auf solche Spenden angewiesen war.
Vor Januar 1933 hatte jede politische Partei eine eigene Jugendorganisation, die jeweils andersfarbige Hemden trug, unter anderem rote oder braune, und die man außerdem an den
verschiedenartigen Abzeichen erkannte. Allen gemeinsam waren bestimmte Aktivitäten, zum Beispiel Zelten und Singen am Lagerfeuer. Natürlich gab es auch den gelegentlichen Erfahrungsaustausch unter den Gruppen wie etwa über die beste Sorte Zeltleinwand. Selbst nach Hitlers Machtübernahme kam zwischen Mitgliedern der Hitlerjugend und jüdischen Wanderbünden ein solcher Austausch nicht-ideologischer Informationen noch zustande. Schließlich saß man ja auch im Klassenzimmer zusammen und trieb in der Turnhalle gemeinsam Sport.
Zu Ida Netters Erleichterung war vor der Schule keine Hakenkreuzfahne gehißt worden. Dies geschah immer häufiger überall in der Stadt und zu allen möglichen Anlässen, hier und heute zum Glück jedoch nicht. So konnte sie ungehindert die lateinische Inschrift unter dem obersten Fenster lesen: V I TA E NON SCHOL A E DI SC IMUS – Für das Leben, nicht für die Schule lernen wir – , ein Motto, das von den Jungen natürlich vehement bestritten wurde. Normalerweise herrschte zwischen ihnen und den Lehrern permanenter Krieg. Es kam selten vor, daß ein herzliches Verhältnis zwischen einem Lehrer und einem Jungen offen zur Schau getragen wurde.
Als Ida Netter die Treppe hinauf und auf dem Weg zum Büro des Direktors durch die Flure ging, vorbei an den Porträts von Sokrates, Plato, Cicero, Caesar und Mark Aurel, hasteten einige ältere Jungen, die zur Aula wollten, an ihr vorbei. Sie hielt einen Schüler an, der in die entgegengesetzte Richtung ging, und fragte ihn, was los sei.
»Die Generalprobe für Antigone«, antwortete der Junge. »Für die Aufführung heute abend.« Er schaute auf seine Armbanduhr. »Die haben sich fünf Minuten verspätet.«
Lachend fügte er hinzu: »Ein Glück, daß nicht Wutz die Aufsicht führt.«
Viele Lehrer hatten Spitznamen, nicht unbedingt bösartige. Wutz war nur eine Verballhornung des Namens von Dr. Wirtz, der es mit der Pünktlichkeit sehr genau nahm. Andere, wie Schwalch, verdankten ihre Spitznamen weit hergeholten oder längst vergessenen Anlässen. Lieschen für Dr. Weber war wiederum naheliegend wegen seiner zimperlichen, leicht affektierten Art. Vor der Nazi-Zeit waren die Lehrer des Goethe-Gymnasiums mit wenigen Ausnahmen bedeutende Gelehrte gewesen, deren Qualifikation mit der von Universitätsprofessoren vergleichbar war. Die Oberprima entsprach in ihren Anforderungen bereits dem ersten Jahr an der Universität.
Die Sekretärin des Direktors ließ Ida Netter nur zehn Minuten warten. Die versuchte sich inzwischen zu erinnern, worum es in Antigone ging. War das nicht die Geschichte der mutigen Tochter des Ödipus, die dem Tyrannen Kreon trotzte und gegen dessen Befehl darauf bestand, ihren rebellischen Bruder zu bestatten, und die dafür mit ihrem Leben zahlen mußte? Die Götter standen auf der Seite der Rebellen, fiel ihr wieder ein, nicht des Tyrannen. Sie fragte sich, was die Nazi-Lehrer aus diesem Stück machen würden.