Raymond Federman
Pssst!

Geschichte einer Kindheit
Aus dem Französischen von Andrea Spingler
204 Seiten, Abb.
Fadenheftung, Festeinband
€ 23
ISBN: 978-3-938803-10-3
Erschienen: 1.10.2008
Umschlag: Katharina Hinsberg
Gefördert im Rahmen der »Literaturdialoge« der Kunststiftung NRW
Stiftung Buchkunst prämiert: »eines der schönsten Bücher«

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Am 16. Juli 1942 gegen 5:30 Uhr drang französische Polizei in die Wohnung der Federmans in Montrouge ein, um die jüdische Familie festzunehmen. Raymond Federmans Mutter schubste ihren 14jährigen Sohn mit einem Bündel Kleider in eine Abstellkammer. Sie sagte »Chut« (»Pssst !«) und schloß die Tür. Federman sollte sie, seinen Vater und seine beiden Schwestern nie wiedersehen, sie wurden deportiert und in Auschwitz ermordet. Federman blieb über 24 Stunden in dieser dunklen Kammer, bevor er sich aus dem Haus stahl und in einem Güterzug nach Süden floh.
Raymond Federman hat in vielen seiner Bücher über diese Tragödie geschrieben, jedoch immer betont, daß er kaum Erinnerungen an die Zeit davor habe. »Pssst !« nun ist das Buch seiner Kindheit, in dem er aus den Bruchstücken seiner Erinnerungen ein Puzzle zusammenfügt, das zu einem leicht verwischten, gleichwohl plastischen Bild wird.
Immer wieder schweift er dabei ab, konfrontiert sich als Erzähler mit sich selbst, springt in der Zeit, und doch läßt er die Magie einer jeden Kindheit erstehen. Seine Kindheit aber endet, als er die Abstellkammer verläßt, ab diesem Zeitpunkt muß er für sich selbst sorgen. Das Stundenprotokoll seiner Flucht aus dem Haus bis zum Übertritt in die unbesetzte Zone Frankreichs ist das Protokoll eines Erwachsenwerdens im Zeitraffer.

Raymond Federman wurde am 15. Mai 1928 in Montrouge, nahe Paris, geboren. 1947 emigrierte er in die USA, studierte Literatur und nahm am Koreakrieg teil. Sein literarisches Werk, französisch und englisch geschrieben, ist sehr umfangreich und wurde zu großen Teilen ins Deutsche übersetzt. Zuletzt erschien Mein Körper in neun Teilen.

Ich habe viele Jahre gebraucht, um zu verstehen, was mir meine Mutter mit diesem Pssst ! sagen wollte.
Sie wollte mir sagen: Wenn du nichts sagst. Wenn du ruhig bleibst. Still. Pssst ! Dann wirst du überleben.

Scheiße, Federman, wie ernst das ist, was du da schreibst ! Deine Leser werden es stinklangweilig finden. Sie werden sich fragen, was mit dir los ist. Ob du nicht vielleicht senil wirst.

Was, kein irres Gelächter mehr? Keine sexuellen Frechheiten? Was geht hier vor? Keine typographischen Auswüchse mehr? Keine selfreflexiveness? Keine Skatologie? Nicht möglich ! Jetzt macht Federman auch noch todgeweihten Realimus. Das werden sie sagen.

Und es stimmt, ja, es stimmt, ich bin nah am Schwindel des Realismus bei dieser Geschichte und könnte leicht in ihn abgleiten. Aber wenn man seine Kindheit erzählt, steht man immer am Rand des Abgrunds der Sentimentalität und verfällt leicht in verbrauchten Realismus. Dieses Risiko muß man eingehen, wenn man erzählt, was geschehen ist. Hier, in Montrouge, während meiner Kindheit.

Gut, ich mache trotzdem weiter.

Leseprobe

Im Dunkeln stehend, die Kleider an die Brust gedrückt, am ganzen Leib zitternd, nicht vor Kälte, sondern vor Angst, hörte ich im Treppenhaus das Getrampel der Polizisten, die zu uns heraufkamen. In den dritten Stock.

Meine Mutter hatte die Wohnungstür nicht zugemacht, nachdem sie mich in die Abstellkammer im Treppenhaus geschoben hatte. Deshalb konnte ich verstehen, was die Polizisten sagten, als sie eintraten. Sie sagten die Namen der Personen, die sie verhaften wollten: Simon Federman. Marguerite Federman. Sarah Federman. Raymond Federman. Jacqueline Federman.

Als sie Raymond sagten, hörte ich, wie meine Mutter rasch einwarf: Der ist nicht da. Der ist auf dem Land. Die Polizisten haben nichts erwidert.

Dann hörte ich, wie die Polizisten zu meinen Eltern sagten, sie sollten das Nötigste mitnehmen, weil sie nicht wüßten, wohin man sie bringen würde, und die Reise lang werden könnte. Die Polizisten schienen nicht böse zu sein. Sie redeten nicht laut. Sie machten ihre Arbeit.

In der Finsternis dieser Abstellkammer im Treppenhaus vor unserer Wohnung, Rue Louis-Rolland 4 in Montrouge, habe ich all das gehört, aber ich verstand nicht, warum meine Mutter mich im Dunkeln eingesperrt hatte. Es war, als spielte ich Verstecken, ohne zu wissen, ob ich versteckt bleiben oder entdeckt werden sollte.

In den langen schrecklichen Stunden, in denen ich, vergessen und verständnislos, in dieser Finsternis ausharrte und mich nicht traute, die Tür zu öffnen, spürte ich, daß meine Kindheit gerade ausgelöscht wurde. Daß meine Kindheit gerade unterging …

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»Pssst!« vom Weidle Verlag ist eins der schönsten Bücher 2008

Die Stiftung Buchkunst begleitet seit 1965 kritisch die deutsche Buchherstellung. Das Gebrauchsbuch steht dabei im Mittelpunkt. »Die schönsten deutschen Bücher« – Vorbildlich in Gestaltung, Konzeption und Verarbeitung – werden jedes Jahr von einer unabhängigen Jury prämiiert.

So auch Raymond Federmans Titel »Pssst ! – Geschichte einer Kindheit«, der im Weidle Verlag erschienen ist. 2008 haben 1072 Bücher von 468 Einsendern teilgenommen und sich für den Titel »Die schönsten deutschen Bücher« der Stiftung Buchkunst beworben: Ein neuer Teilnehmerrekord. Der Weidle-Titel konnte sich in der Gruppe 1 – Allgemeine Literatur durchsetzen und erhielt die Anerkennung eines der schönsten Bücher des Jahres 2008.

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