Bill Barrette
Berlin Diptychon
Photographien und Gedichte
mit Gedichten von John Yau
Aus dem Amerikanischen von Sylvia Gardner-Wittgenstein
Mit einem Vorwort von Joachim Sartorius
96 Seiten 23×23, 48 Fotos (Duplex)
€ 24,50
ISBN: 978-3-931135-10-2
Erschienen: 1995
»Bill Barrette und John Yau werfen ihre wachen Augen auf Berlin. Beider Augen sind so wach, weil sie in einer anderen Kultur geschult wurden.
John Yau, von chinesischer Abstammung, in NY und LA gleichermaßen zu Hause, gewaschen mit allen Wassern der bildenden Kunst, streift durch Berlin und notiert seine Eindrücke, Augen-Blicke: eine persönliche Wahrnehmungsgeschichte fern des Tradierten. Ein deutlicher Aneignungswunsch ist in ihm. Als Dichter möchte er sich die Stadt auch aneignen durch Anverwandlung ihrer Dichter. Das sind Gottfried Benn, Paul Scheerbart und Oskar Pastior. Was für ein Dreigestirn in dem Geisterreich Berlin! Yau geht von Erscheinungen aus, die – eben noch konkret – ins Surreale übergehen, die Ausgangsebene noch einmal streifen, um sich dann an einem Ort poetischer Überraschungen zu verlieren.
Dem Geisterreich von John Yau entsprechen die Windstille und die Menschenleere in den Photographien von Bill Barrette, der sich als bildender Künstler immer wieder obsessiv mit dem menschlichen Bedürfnis auseinandersetzte, wie der individuellen und kollektiven Identität in einer Zeit der Löschung und der Selbstauslöschung zu gedenken sei. Menschen tauchen in seinen Photographien nur als Phantombilder, als Wachsfiguren im Panoptikum, als im großen Glas eingeweckter Fötus oder als 'photo trouvé' vom Flohmarkt auf.«
Aus dem Nachwort von Joachim Sartorius
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Leseprobe
ERSTE POSTKARTE VON GOTTFRIED BENN
Ich bin ein Optiker
der Eulen schröpft
ein Meuteverlierer
seinen Hausschlüssel umklammernd
ich sammle Strafzettel
für alte Rechtfertigungen
tausche Grimassenapparaturen
gegen fadenscheinige Masken
ich gehe durch
der Tagträume vertrockneten Leim
Ein Larvenhaufen
der einen Turm
mit dem Lärm
des Feueralarms
ankündigt
Ich vernichte diejenigen
die ihre Namen auf feuchtem
oder staubigem Glas hinterließen
ziehe die gemieteten Räume
hinter ihnen ab
FÜNFTES SELBSTPORTRÄT MIT RILKE
Ich grüße die Augen der Nacht
bevor ich sie
auf meine Blätter hefte
Eine Pause
aus Schlamm und Geld
ein Gassenandroid
der die Masse
einlullt
die in ihren gekräuselten Anzügen verrottet
Ich posiere als an ein Rad
gebundenes Kalb
Ein Halunke bestochen
mit Silberschmiergeld
verbrenne ich moderne Grünanlagen
für einen Spazierstock
gehe ich auf Knien durchs Leben