Zdenka Fantlová
»In der Ruhe liegt die Kraft«, sagte mein Vater
Aus dem Tschechischen von Pavel Eckstein, mit einem Vorwort von Jiri Grusa
308 Seiten, Abbildungen
Fadenheftung, fester Einband
€ 21
ISBN: 978-3-931135
Erschienen: 1999
Umschlag: Merrill Wagner
Wahrscheinlich trägt jeder Mensch ein Kästchen für letzte Lebenshilfe mit sich. Nur wissen wir nicht, wo, und auch nicht, was darin ist, bis es sich im kritischsten Augenblick selbst öffnet. Es sind dort keine Arzneimittel und Notverbände. Nur feste Anweisungen, die uns den weiteren Weg führen. Vor allem birgt das Kästchen Stärke, eine ungeheure, unbekannte, rätselhafte Stärke, von deren Existenz wir bislang nichts wußten. Sie kommt nur in äußerster Not zum Vorschein, wenn es ums nackte Leben geht.
Nur mit ihrer Hilfe können wir wie durch ein Wunder auch scheinbar Unmögliches erreichen.
Zdenka Fantlová hat den Holocaust nur knapp überlebt, ein britischer Soldat rettete ihr nach der Befreiung des Lagers Bergen-Belsen am 15. April 1945 im letzten Augenblick das Leben. Als Jüdin 1922 in Böhmen geboren, wurde sie 1942 nach Theresienstadt deportiert.
Im Oktober 1944 kam sie nach Auschwitz-Birkenau und wurde als »arbeitsfähig« ins Lager aufgenommen. Nach kurzer Zeit wurde sie nach Kurzbach zum Arbeitseinsatz weitertransportiert. Im Januar 1945 mußte sie einen der »Todesmärsche«nach Groß-Rosen antreten. Von da ging es weiter nach Mauthausen und schließlich nach Bergen-Belsen.
Über fünfzig Jahre nach den Ereignissen hat Zdenka Fantlova ihre Geschichte aufgeschrieben und in Tschechien veröffentlicht. Sie erzählt von ihrer behüteten Jugend und dem Bruch, der darauf folgte. Sie beschreibt, wie es ihr gelang, zu überleben, indem sie sich weigerte zu glauben, was um sie herum geschah. Ausführlich widmet sie sich der Arbeit des tschechischen Theaters in Theresienstadt, mit Künstlern wie Hans Krasa, Viktor Ullmann, Pavel Haas, Gideon Klein, Karel Ancerl oder Frantisek Zelenka. Und sie berichtet über die Dreharbeiten zu dem Propagandafilm »Der Führer schenkt den Juden eine Stadt«.
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Zdenka Fantlová wurde in Blatná geboren. 1925 übersiedelte die Familie nach Rokyceny, wo sie bis zu ihrer Deportation nach Theresienstadt lebte. Nach der Befreiung in Bergen-Belsen wurde sie vom Roten Kreuz im Juli 1945 zur Rekonvaleszenz nach Schweden verlegt. Erst dort erfuhr sie, daß sie die einzige Überlebende ihrer Familie war. Bis 1949 blieb sie in Stockholm, wo sie für die Tschechoslowakische Gesandtschaft arbeitete. Dann emigrierte sie nach Australien. Sie heiratete den deutschen Emigranten Charles Ehrlich, einen Verwandten des Mediziners und Nobelpreisträgers Paul Ehrlich. Mit ihm und ihrer Tochter lebte sie bis 1969 in Melbourne. Sie wurde Schauspielerin und trat mit Erfolg in zahlreichen Bühnenrollen auf. Seit ihrer Rückkehr nach Europa lebt sie in London.
Der Übersetzer Pavel Eckstein lebt als Musikwissenschaftler und Operndramaturg in Prag.
Leseprobe
Einer der jungen Männer, die die Suppenkarten entwerteten, war auffallend blaß. Er trug einen Regenmantel und ein Barett. Er hatte große traurige Augen und erinnerte an einen Pierrot. Ich wußte nichts über ihn. Eines Tages stand ich mit meinem Schöpflöffel bereit, aufden Wink unseres Gruppenleiters mit der Essensausgabe zu beginnen. Auch jener junge Mann hatte gerade Dienst, und noch ehe unsere Arbeit begann, fragte er mich leise: »Fräulein, können Sie weinen?« Ich wußte nicht recht, warum er mir so eine ungewöhnliche Frage stellte, antwortete aber ohne Umschweife:
»Hmmm. Das kann ich.« »Also, dann kommen Sie heute abend zu unserer Theaterprobe auf dem Dachboden der Magdeburger Kaserne. Wir bereiten ein neues Stück vor – eigentlich ist es ein Kabarett mit dem Titel Prinz Bettliegend. Ich habe es zusammen mit meinem Freund verfaßt. Mein Name ist Josef Lustig.«
Zur verabredeten Zeit war ich auf dem Magdeburger Dachboden. Ganz wichtig kam ich mir vor, als privilegierte Person, die sich jetzt mit Künstlern treffen sollte.
Josef Lustig und sein Freund und Mitarbeiter Jiri Spitz standen auf einer Art Bühne und diskutierten.
Anwesend war auch Karel Kowanitz, der die Texte zu den Liedern des Stücks geschrieben hatte. Das vorbereitete Kabarett wollte formal den Spuren des einst renommierten und jetzt verbotenen »Befreiten Theaters« von Voskovec und Werich folgen. Das Sujet war eine Allegorie die beiden Protagonisten wollten ganz wie ihre Vorbilder – jeder als Clown geschminkt – von der Vorbühne aus zwischen den Szenen der Handlung das aktuelle Geschehen rund um uns (soweit eben möglich) kommentieren und die Texte von Kowanitz mit von Jaroslav Jezek entlehnter populärer Musik singen. Das Stück spielte im Reich des Königs Furunkel XII., wo auch sein Sohn, der Titelheld Prinz Bettliegend, undseine Tochter, Prinzessin Dienstfrei, lebten. In den Szenen dieser drei Personen agierten Marionetten, was unsere Abhängigkeit von der Lagerleitung symbolisieren sollte. Den Text sprach man in unnatürlich hoher Tonlage. Das Publikum beklatschte jeden aktuellen Bezug und jede Anspielung stürmisch. Prinz Bettliegend war erkrankt, und der Arzt bescheinigte seine Arbeits- und somit auch Transportunfähigkeit. Er mußte im Bett liegen, aber ein böser Zauberer trieb ihn aus dem Bett und in einen der Transporte. In diesem Augenblick beginnt – laut Buch – ein junges Mädchen unter den Zuschauern zu weinen und den Prinzen zu bedauern. Die beiden Clowns rufen sie auf die Bühne und versichern ihr, daß der Prinz »bettliegend« bleibt und alles gut ausgeht. Das weinende Mädchen sollte ich sein. Ich versprach, mich zu bemühen. Ich sollte nach dem entsprechenden Stichwort zuerst leise weinen und dann laut schluchzen. Ich wurde in die dritte Reihe gesetzt, und niemand nahm von mir Notiz, ehe das Stück auf dem vollbesetzten Dachboden begann.
Dann fiel jedoch alles anders als erwartet aus. Zur rechten Zeit begann ich zu weinen und allmählich lauter zu werden. Die Leute um mich herum reagierten heftig. »Ruhe! Psssst!« »Hören Sie doch auf!« »Stören Sie doch nicht!« »Herrgott, seien Sie doch still!« Wie es nun meine Aufgabe war, hörte ich nicht auf, überzeugend zu weinen, und ungeduldig wartete ich darauf, bis mich die beiden von der Bühne – wie geprobt – mit dem entsprechenden Text aus meiner prekären Lage befreien würden. Nichts dergleichen geschah jedoch, die Spannung wuchs, bis der diensthabende Feuerwehrmann eingriff und mich aus dem Saal zerren wollte. Ich aber weinte weiter, weil ich das Spiel nicht verderben wollte, und nur zwischen den Zähnen flüsterte ich ihm zu: »Das gehört doch zum Stück.«
…
(Theresienstadt)
In den Transporten aus Deutschland waren meist ältere Leute mit viel Gepäck. Man hatte ihnen eingeredet, daß sie in Badeorte mit gesundheitlicher Fürsorge und gesellschaftlichem Leben gebracht würden. Sie packten also die entsprechende Kleidung ein, vergaßen selbst Balltoiletten mit langen Handschuhen und Hütchen mit Federn nicht.
Diese Koffer und Taschen wurden auf schwarze Begräbniswagen mit ihrer eigentümlichen Dekorierung geladen. Anstatt Pferden zogen je zehn junge, starke Männer aus der Speditionsabteilung die einzigen Fahrzeuge, die zur Verfügung standen. Es fanden darauf auch Brot und Lebensmittel, gelegentlich sogar Gehbehinderte aus Transporten ihren Platz. Ganz natürlich auch Verstorbene zur Fahrt ins Krematorium.
Manchmal glich die Stadt einem Bienenstock. Ankünfte, Abreise in unaufhörlicher Folge. Allmählich wuchs die Zahl der zwangsweise hier Angesiedelten auf 60 000 Personen.